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Entsetzen und Trauer in den Vereinigten Staaten: Eine Andacht am Samstagabend in Seattle im Gedenken an die Opfer des Amoklaufes in der Volksschule von Newtown.

Foto: REUTERS/Anthony Bolante

Wie soll man das verstehen? Jaden, Kate und Claire verstehen es nicht, es hat keinen Zweck. Dass ein Bursche aus ihrer Mitte zwanzig Erstklässler tötet, ausgerechnet hier, in Newtown, wo sie weder ihre Haustüren abschließen, noch ihre Autos verriegeln, weil es sich in Newtown so sicher lebt wie in Abrahams Schoß.

Schock ist ein zu mildes Wort, um zu beschreiben, wie Newtown sich fühlt, eine Kleinstadt mit 27.000 Einwohnern, malerisch zwischen bewaldeten Hügeln gelegen. Eigentlich keine Stadt, sondern eine Ansammlung stiller Dörfer und schmucker Eigenheimsiedlungen. Sandy Hook ist so ein Dorf, vielleicht das schönste in Newtown. Ein Gebirgsbach, verwitterte Steinbrücken, mittendrin ein American Diner, ein Imbiss, in dem man Fünfzigerjahre-Filme drehen könnte.

"Hug a teacher today"

Nun aber steht Wolf Blitzer von CNN in grellem Scheinwerferlicht vor dem Diner, nun parken die Übertragungswagen mit ihren Riesenschüsseln die Hauptstraße zu. Am Bach hängt ein Leintuchposter: "Hug a teacher today", man möge heute einen Lehrer umarmen. Vor einem Spielzeugladen steht ein trotziger Kreidespruch auf einer Tafel: "Unsere Herzen sind gebrochen, doch im Geist sind wir stark."

Den Flachbau der Sandy Hook Elementary School hat die Polizei weiträumig abgesperrt. Und auf einem Sportplatz tritt ein beleibter State Trooper mit breitkrempigem Hut alle zwei, drei Stunden hinter einen Wald aus Mikrofonen, um die neuesten Ermittlungsergebnisse zu verkünden. Paul Vance setzt Puzzlestücke zusammen. Allmählich ergibt sich ein genaueres Bild.

Mit vier Waffen zur Schule gefahren

Demnach fuhr, der 20-jährige Amokschütze Adam L. – zuerst war er noch mit seinem Bruder Ryan verwechselt worden – vergangenen Freitag mit vier Waffen zur Sandy Hook School; zwei Pistolen und zwei halbautomatische Gewehre, von denen er eines im Kofferraum ließ. Seinen Weg hinein in die Schule hat er sich gewaltsam gebahnt, niemand ließ ihn freiwillig durch die Sicherheitsschleuse. Der Sohn einer Lehrerin, wie es anfangs hieß, ist er auch nicht. Seine Mutter war nicht in der Schule beschäftigt.

Fest steht: Die meisten Schüsse fielen in nur drei Minuten, zwischen 9:36 und 9:38 Uhr, in zwei Klassenzimmern. Alle getöteten Schüler waren Erstklässler, alle wurden mehrfach von Kugeln getroffen.

Dawn Hochsprung soll versucht haben, dem Angreifer in den Arm zu fallen. Die Direktorin saß mit ihrer Stellvertreterin, der Schulpsychologin und der Mutter eines Zweitklässlers in einem Besprechungszimmer, als die ersten Schüsse fielen. Die drei Pädagoginnen rannten auf den Gang – nur die Vizedirektorin, überlebte.

Vater vertraut sich Medien an

Robbie Parker hat Emilie verloren, die älteste seiner drei Töchter. Er will darüber reden, auch mit Journalisten. Parker tritt mit Tränen im Gesicht vor die Reporter und erzählt, was für ein großartiges Mädchen seine Emilie war. Wer schlechte Laune hatte, dem schob sie lustige, aufmunternde Zeichnungen zu.

Häufig hatte die Sechsjährige einen Satz bunter Stifte dabei, damit sie schnell zu Papier bringen konnte, was ihr durch den Kopf ging. "Ich habe solches Glück, dass ich ihr Vater sein darf", sagt Parker, er spricht in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit. "Wenn wir nach vorn schauen", fügt er hinzu, "lasst uns dafür sorgen, dass das, was so vielen Menschen hier widerfuhr, nicht zu etwas wird, was uns für immer definiert." Auch für L.s Familie hält er tröstende Worte bereit: "Ich kann mir nicht vorstellen, wie hart diese Erfahrung für Sie sein muss."

Familie am Schießstand

Was Vances detektivisches Puzzle noch immer nicht beantwortet, ist die Frage nach dem Warum. Wieso hat Adam L. getan, was er tat? Frühere Klassenkameraden beschreiben ihn als hochintelligenten, schüchternen Burschen, der anderen nicht lange in die Augen sehen konnte und sich lieber über seinen Laptop beugte. Adams Mutter Nancy, sein erstes Opfer, war seit vier Jahren geschieden. Offenbar lebte sie von dem Geld, das sie nach dem Urteil eines Scheidungsrichters von ihrem Ex-Mann erhielt.

Nancys Hobbys waren ihr Garten und ihre Waffensammlung. Ihre Söhne Adam und Ryan soll sie oft zum Schießen mitgenommen haben. Was keiner in Newtown begreift: Wie konnte die Frau, die um die mentalen Probleme ihres Zweitältesten gewusst haben muss, ihre Flinten daheim aufbewahren in Reichweite des Sohnes?

Waffengesetze und Freiheit

Bocenna Stein ist gekommen, um an der Zufahrt zur Schule weiße Lilien neben Plüschtieren und ein Meer aus Kerzen zu legen. Barry Stein, Bocennas Mann, ein Historiker, sieht den Rubikon überschritten, den Rubikon der Waffendebatte. "Vergiss diese Idioten, die immerzu auf die Barrikaden gehen, wenn jemand schärfere Gesetze verlangt", sagt er zornig, "jedes Mal, wenn du über Waffenkontrolle redest, reden sie über Freiheit. Aber was ist mit der Freiheit dieser Kids?" (Frank Herrmann, DER STANDARD, 17.12.2012)