Sozialforscherin Ilse Arlt: über viele Jahrzehnte war ihre Pionierarbeit in Vergessenheit geraten, nun setzen ihr engagierte Sozialforscherinnen ein Denkmal.

Foto: Maria Szöllösi

Was braucht der Mensch? Welche Bedürfnisse der/des Einzelnen müssen befriedigt sein, damit ein soziales Gefüge in seiner Komplexität funktioniert? Ilse Arlt (1876-1960) beschäftigte sich ihr Leben lang mit sozialen Problemen. Entgegen dem Trend ihrer Zeit gab sie sich nicht damit zufrieden, Armut als schicksalhaft zu sehen, sondern ortete darin eine multikausal bedingte Mangelbefindlichkeit, die von einem entsprechenden "Niveau menschlichen Gedeihens" abweicht. Arlts wissenschaftliche Analysen auf dem Gebiet der sozialen Arbeit gelten auch heute noch als grundlegend und ihre Umsetzung in die Praxis als zukunftweisend. Dennoch blieb die Wienerin, die als erste die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes in der Armutsforschung erkannte und die Fürsorgeausbildung in Österreich begründete, weitgehend unbekannt.

Enthüllung der Ilse Arlt-Gedenktafel

Nun wird Ilse Arlts Arbeit endlich gewürdigt. Zum 100-jährigen Jubiläum der Fürsorgeausbildung erhält die Pionierin einer wissenschaftsorientierten sozialen Arbeit eine Gedenktafel an jenem Ort, an dem sie mit den "Vereinigten Fachkursen für Volkspflege" die erste Ausbildungsstätte für Soziale Berufe geschaffen hatte: in der Wiener Albertgasse 38. Die Enthüllung findet am 13. Dezember 2012 um 10 Uhr in der jetzigen Schule für Kindergartenpädagogik statt.

Zu verdanken ist diese Ehrung vor allem dem Engagement zweier Frauen, die sich seit vielen Jahren für die Wiederentdeckung Ilse Arlts einsetzen: Silvia Ursula Ertl und Maria Maiss. Die diplomierte Sozialpädagogin Ertl verfasste ihre Diplomarbeit über die Biografie Ilse Arlts, die zum damaligen Zeitpunkt in Österreich praktisch unbekannt war. Und Maria Maiss, akademische Mitarbeiterin des Ilse-Arlt-Instituts an der FH St. Pölten, analysiert seit langer Zeit den Nachlass Ilse Arlts. Das ist umso erfreulicher, als Arlts Leistungen nach ihrem Tod 1960 schnell in Vergessenheit gerieten. Erst in den letzten fünfzehn Jahren erfolgte eine Rezeption: Neben Ursula Ertl belegen auch ein Beitrag von Sylvia Staub-Bernasconi und ein Band von Cornelia Frey den nach wie vor hochaktuellen Arlt'schen Forschungsansatz.

Armut ist kein unabänderlicher Zustand

Als Ilse Arlt Anfang 20 war, dämmerte ihr, dass nicht nur sie selbst "so dumm" war, nicht "zu wissen, wie man misshandelten Kindern, verlassenen Greisen, armen Frauen hilft, sondern dieses Wissen fehlte überhaupt". Dies schrieb sie 1937 in einer unveröffentlichten Autobiografie, die sich im Besitz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften befindet. Nicht nur die damalige Nationalökonomie und die Sozialwissenschaften wären nicht in der Lage gewesen, "zu den letzten nicht mehr teilbaren Tatsachen" vorzudringen, auch die Hilfsvereine hätten ineffizient gearbeitet, und es fehlte dringend eine Institution, die effektives Helfen lehre. Ein wesentlicher Kritikpunkt Arlts richtete sich an die gängige Definition von Armut als eine zu ertragende Tatsache. Indem Armut eine Negation ausdrücke, könne sie nicht Ausgangspunkt für eine positive Arbeit - wie die Wohlfahrtspflege - sein. Deshalb sei es nötig, "das menschliche Gedeihen", also das Positive, ins Auge zu fassen. Helfen dürfe sich folglich nicht auf die Linderung von Leiden beschränken, sondern müsse bei der Förderung von Lebensfreude ansetzen. Doch wie wird diese erzeugt? Welche Grundbedürfnisse müssen davor erfüllt werden? Dazu formulierte sie folgende Bedürfnisklassen: 1) Luft/Licht/Wärme/Wasser, 2) Ernährung, 3) Wohnen, 4) Körperpflege, 5) Kleidung, 6) ärztliche Hilfe und Krankenpflege, 7) Unfallverhütung und Erste Hilfe, 8) Erholung, 9) Familienleben, 10) Erziehung, 11) Rechtspflege, 12) Ausbildung zu wirtschaftlicher Tüchtigkeit, 13) Geistespflege (Moral, Ethik, Religion).

Ausgewogenheit menschlicher Bedürfnisse

Gleichzeitig erkannte Ilse Arlt, dass Bedürfnisbefriedigung in der richtigen Balance sein sollte. Denn ebenso wie die Gefahr bestünde, die "Schwelle zum Luxus zu überschreiten", müsse verhindert werden, eine bestimmbare "Notschwelle" zu unterschreiten. Ein absoluter Entbehrungszustand würde nämlich nicht bloß der/dem einzelnen Betroffenen schaden, sondern zugleich zur Schädigung des gesamten Umfeldes führen. Aus diesen Erkenntnissen leitete sie die zentrale Aufgabe und Verantwortung professionell tätiger WohlfahrtspflegerInnen ab: „Die Kunst derselben bestehe wesentlich darin, in jedem spezifischen Einzelfall zwischen einer einfachen und noch zureichenden Befriedigung und einer gegebenenfalls vorliegenden Unterbefriedigung eines bestimmten Bedürfnisses zu unterscheiden. Dies ermögliche einerseits jene Fälle zu orten, wo Gefahr im Verzug ist und andererseits die jeweils vorhandenen Vermögen und Ressourcen zur Bedürfnisregulierung und -befriedigung zu erkennen, auf welchen wohlfahrtspflegerische Zuwendungen aufzubauen haben", heißt es in "Theorie mit Leidenschaft" von Maria Maiss und Peter Pantucek.

Biografische Notizen

Geboren am 1. Mai 1856 in Wien, wuchs Ilse Arlt in einer großbürgerlichen, sozial engagierten Familie auf. Im offenen Haus ihrer Eltern - die Mutter war Malerin, der Vater Augenarzt - fand sich regelmäßig ein großer Bekanntenkreis ein, um zu philosophieren und die sozialen Probleme der Zeit zu erörtern. Möglicherweise hat die frühreife Ilse einiges von den politischen Diskussionen aufgeschnappt, denn bereits "für mein fünftes Lebensjahr ist das schmerzhafte Grübeln über die Armut anderer ebenso nachweisbar, wie die Leidenschaft durch das Lernen", hielt sie in der unveröffentlichten Autobiografie (siehe oben) fest. Von ihrer Mutter nach dem Volksschullehrplan unterrichtet, bereitete sie sich danach autodidaktisch auf die Staatsprüfung in Latein und Englisch vor und betrieb schließlich ein irreguläres Universitätsstudium bei führenden Sozialpolitikern Österreich-Ungarns wie Eugen Phillipovich, Nationalökonom in Wien und Ernst Mischler, Statistiker und Sozialwissenschaftler in Graz. Anschließend arbeitete sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Steiermärkischen Statistischen Landesamt und engagierte sich im "Sozialen Bildungsverein".

Theorie und Praxis verbinden

Bei ihren eigenen Studien wurde ihr immer klarer, dass es zwar Fortschritte in technischen und ökonomischen Bereichen gab, im "Humanen" jedoch ein eklatanter Mangel herrschte. So begann sie mit der Erforschung empirischer Grundlagen, um eine eigenständige Fürsorgewissenschaft etablieren zu können. Denn für die Lösung sozialer Probleme seien Forschungsgrundlagen ebenso unabkömmlich wie eine adäquate Ausbildung, die praktisches und theoretisches Wissen vermittelt. Diese Überzeugung trug sie erstmals beim Internationalen Kongress für "Öffentliche Arbeits- und private Wohlfahrtspflege" 1910 in Kopenhagen vor und gründete zwei Jahre später mit den "Vereinigten Fachkursen für Volkspflege" die erste Schule, in der Frauen fortan zur "Wohlfahrtspflegerin" ausgebildet wurden. 1921 wurden ihr Einsatz und ihre Publikation "Grundlagen der Fürsorge" mit der Verleihung des Titels "Bundesfürsorgerat" gewürdigt.

1938 wurde Ilse Arlt ihre jüdische Abstammung zum Verhängnis: die Schule geschlossen, ihr jegliche Lehr- und Publikationstätigkeit untersagt, ihre Bücher genauso eingestampft wie die im Entstehen befindliche Materialsammlung für ein Fürsorgemuseum. Sie stand vor dem finanziellen Ruin und hielt sich mit der Vermietung eigener Wohnräume über Wasser. Ab 1945 konnte sie zwar ihre Fachkurse wieder aufnehmen, doch die zunehmend fehlenden Mittel sowie ihr Gesundheitszustand zwangen sie, die Schule 1950 endgültig zu schließen. Immerhin wurden ihre Verdienste 1954 mit dem "Doktor-Karl-Renner Forschungspreis" gewürdigt.

Einsatz bis zum Tod

Zwei Jahre vor ihrem Tod erschien Ilse Arlts letztes Buch "Wege zu einer Fürsorgewissenschaft". Darin verwies sie auf noch ausständige Forschungsbeiträge, die Notwendigkeit weiterer Bildungs- und Beratungseinrichtungen, die nötige Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit (damals noch 45 Stunden), auf ausreichende Maßnahmen zur Verbesserung des Loses von Behinderten, zur Betreuung von Sucht- und Geisteskranken, Häftlingen und Haftentlassenen und die Entwicklung humaner Erziehungsmethoden. Auch hier betonte sie noch einmal, dass punktuelle Maßnahmen bei fehlender Gesamtsicht unter Umständen neue Probleme schaffen könnten.

Ilse Arlt starb am 25. Jänner 1960 an den Folgen eines Unfalls in Wien. Von Fachkreisen betrauert, erfolgte ihr Tod ansonsten weitgehend unbemerkt. Beigesetzt wurde sie auf dem Wiener Zentralfriedhof. Ihr Grab ist mittlerweile ein Ehrengrab der Stadt Wien, auf dem sie seltsamerweise als Schriftstellerin ausgewiesen wird. (Dagmar Buchta, dieStandard.at, 11.12.2012)