Kairo/Wien - Die ersten Toten, die es in den Auseinandersetzungen zwischen Islamisten und dem Rest Ägyptens gegeben hat, sind begraben - und mit ihnen das gemeinsame politische Projekt der breitgefächerten ägyptischen Revolution. Präsident Mohammed Morsi hat sich einem Kompromiss mit der Justiz, der am Montag in Reichweite schien, einstweilen verschlossen: Seine Verfassungserklärung, mit der er am vergangenen Donnerstag sich und seine Entscheidungen als über der Justiz stehend dekretierte, werde nicht eingeschränkt, hieß es in der Nacht zum Dienstag.

Zuvor hatte sich noch sein Sprecher Yassir Ali dahingehend geäußert, dass die Präsidentenvollmacht nur "souveräne Angelegenheiten" des Präsidenten betreffen sollte, eine vage Formulierung, über die man jedoch zu einer gesichtswahrenden Lösung finden hätte können. Die Opposition wäre damit nicht zufrieden gewesen, aber es wäre doch ein Signal gewesen, dass beim Präsidenten angekommen ist, was geht und was nicht geht in einem Transitionsprozess, der zu einer Demokratie führen soll.

Stattdessen zitiert das Präsidentenbüro nun den "Volkswillen", der die "Säuberung der Justiz" verlange. Mit dieser Wortwahl geht Morsi - oder seine Berater - einen konfrontativen Weg, denn alles, was außerhalb dieses "Willens" steht, stellt sich demnach gegen ein von den Islamisten kreiertes "ägyptisches Volk".

Aber aus der Sicht Morsis sind die Reaktionen auf sein Dekret - das er herausgab, um die Verfassungsversammlung vor der Auflösung zu schützen, was die Verfassungsgebung und darauffolgende Parlamentswahlen verzögert hätte - ein Versuch seiner Gegner, ihn und die Muslimbrüder zurückzudrängen. Er sieht das quasi als Versuch, die Ergebnisse der bisherigen Wahlen zu torpedieren. Daher beruft er sich aufs "Volk" - dem er als Zuckerl den Generalstaatsanwalt Abdel Maguid Mahmud, der als Mann des alten Regimes gilt, vor die Füße warf. Dessen Rücktritt wurde ja stets von allen revolutionären Kräften, nicht nur von den Islamisten, gefordert - aber nicht seine Entlassung als Teil des präsidentiellen Schlages gegen die Justiz.

Die Spaltung zwischen den Lagern wächst, am Dienstag gingen in mehreren Städten wieder Anti-Morsi-Demonstranten auf die Straße, ihre Slogans richteten sich nicht nur gegen das Verfassungsdekret, sondern allgemein gegen die "Herrschaft der Muslimbrüder": Unter den Bärten finde man das Gesicht Mubaraks, war einer der Slogans. Die Muslimbrüder hatten ihrerseits ihre Proteste am Dienstag abgesagt beziehungsweise verschoben, um Blutvergießen zu vermeiden. Aber nicht alle hielten sich daran, es kam zu Zusammenstößen, in Kairo wurde ein Demonstrant getötet.

Am Tahrir-Platz in Kairo wurde "Morsi, Agent der Amerikaner" gerufen - für manche säkulare Linke hat die Zusammenarbeit Morsis und des US-Präsidenten Barack Obama bei der Beendigung der Gaza-Krise die Überzeugung verstärkt, die USA würden hinter dem Aufschwung der Islamisten stehen, um eine wahre Demokratie in der Region zu verhindern. Die USA hatten jedoch Morsis Dekret sofort kritisiert.

Dass es auch in den Reihen der Muslimbrüder selbst und unter Mitarbeitern Morsis Kopfzerbrechen über dessen Dekret gibt, ist indes sicher: Vizepräsident Mahmud Mekky etwa ist ein angesehener Jurist, der durch seinen Kampf für eine unabhängige Justiz berühmt geworden ist. Mit einem Juristenstreik 1992 haben er und sein Kollege Hisham al-Bastaswisi 1992 die Wiedereinstellung entlassener Richter erzwungen.

Mekky war bei Ausbruch der Verfassungskrise in Pakistan, wohin er in Vertretung Morsis gefahren war, der die Reise wegen des Gaza-Konflikts abgesagt hatte. Mahmud Mekkys Bruder, Ahmed, ist Justizminister: Er ist am Montag bei der Vermittlung zwischen Präsident und Justiz gescheitert. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 28.11.2012)