"Die Sicherheit, dass aus dieser Arbeit etwas Außer- gewöhnliches entstehen kann": Schriftsteller Wolf Wondratschek (links) und Sprecher Christian Reiner.

Foto: Standard/Matthias Cremer

Friedrich Hölderlin, "Turmgedichte", gelesen von Christian Reiner, herausgegeben von Manfred Eicher und Wolf Wondratschek. 34 Minuten / 18 Euro, ECM Records, München 2012.

Cover: ECM

"Überzeugung", sagt die Stimme, und dann sagt sie lange nichts mehr. Nach der Überzeugung kommt die Stille. Fünf Sekunden dauert die Stille, sechs Sekunden, sieben, acht, zehn, so lange, dass der Geist des Zuhörers unwillkürlich unruhig wird. Ist etwas mit der CD? Ist der Player kaputt? Nein, die Stimme setzt wieder ein, und sie spricht diese Verse:

Als wie der Tag die Menschen hell umscheinet

Und mit dem Licht, das den Höh'n entspringet

Die dämmernden Erscheinungen vereinet,

Ist Wissen, welches tief der Geistigkeit gelinget.

Die Stimme ist von Christian Reiner - zu ihm später -, die Verse sind von Friedrich Hölderlin. Mehr als vierzig Jahre, bis zu seinem Tod 1843, lebte der 1806 als "wahnsinnig" diagnostizierte Dichter in seinem Tübinger Turm, schrieb Briefe und Gedichte, von denen der Nachwelt nur ein kleiner Teil überliefert ist. An der Frage, wie "wahnsinnig" Hölderlin wirklich war, haben sich Psychiater und Germanisten mit kontroversiellen Ergebnissen abgearbeitet. Der französische Literaturwissenschafter Pierre Bertaux - seine Werke waren in den 70er- und 80er-Jahren stark präsent in den Seminaren "progressiver" österreichischer Germanisten - hat die umstrittene These aufgestellt, Hölderlin sei keineswegs geisteskrank (oder wie es auch heißt: "geistig umnachtet") gewesen, sondern ein "edler Simulant", der sich den Zumutungen seiner Zeit und des Lebens so entzogen habe.

Ähnlich sah es Peter Weiss, Verfasser eines Hölderlin-Dramas, 1971 in einem Interview mit dem Spiegel: "Ich finde nicht, daß Hölderlin im Wahnsinn geendet ist. Für mich ist er der Gesündeste im ganzen Stück, viel gesünder als Hegel zum Beispiel. Hölderlin ist der Mensch, der von allen Instanzen der Wirklichkeit so zusammengehauen worden ist, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sich in seinem Turm zu verkriechen."

Wie verrückt oder nicht verrückt Hölderlin nun immer gewesen sein mag: Die etwa fünfzig aus seinen letzten Lebensjahrzehnten überlieferten Gedichte, die "Turmgedichte", sind erratische, eigentümliche Gebilde, wie aus dem Nichts kommend oder wie ins Nichts entschwindend, eine Sprache, immer hart am Rande des Verstummens.

"Sehr schön, sehr seltsam", nennt sie der deutsche Literaturkritiker Ulrich Greiner, und Peter Sloterdijk spricht in seinen Liner-Notes zu Reiners Einspielung von einer "Nachgegenwart", von einer "Poesie des Rests": "Der einsamste und sprachloseste Mensch war Hölderlin geworden, weil er der einzige gewesen war in seiner Zeit, in dem die Sprache selbst, das unbedingte Sagen, sich hatte verkörpern wollen, jenseits von Ich und Nicht-Ich. Als sie aufhörte, durch ihn zu reden, stürzte er aus dem griechischen Himmel auf die schwäbische Erde."

Christian Reiner hat Erfahrung mit exzentrischen Texten. Der 1970 geborene Münchner wollte erst Maschinenschlosser werden, studierte dann Sprechkunst, Sprecherziehung und Phonologie in Stuttgart; seit einigen Jahren lebt er in Wien und wirkt "im Zwischenbereich von Musik und Sprache", als Vortragender von Lyrik, Prosa und experimentellen Texten. Er hat mit improvisierenden Musik/Text-Ensembles ("Weiße Wände", "Snaut" , "Oral Office") gearbeitet und sich mit der "psychopathologischen" Lyrik der vom Psychiater Leo Navratil entdeckten Gugginger Dichter beschäftigt, vor allem mit jener von Ernst Herbeck.

Und dann also die Lyrik des späten Hölderlin. Die Turmgedichte entdeckt Reiner 1999 während der Auseinandersetzung mit Herbeck: auch jener ein Dichter der Brüche, der Extreme, mit Sätzen, die plötzlich abreißen und im Nirgendwo münden. Von nun an beschäftigt sich Reiner damit, wie man die Turmgedichte hörbar machen kann, und dass diese Reflexion über Jahre hinweg anhält, verdankt sich auch seiner Beziehung zu dem deutschen Schriftsteller Wolf Wondratschek, der Reiner in einem Wiener Jazzclub kennengelernt hat. Wondratschek ist sicher, dass aus Reiners Arbeit " etwas Außergewöhnliches" entstehen kann, und er setzt sich schließlich auch für die Einspielung eines Tonträgers mit den Turmgedichten ein.

Was auf der CD zu hören ist, ist eine Auswahl von 25 Gedichten aus dem Gesamtkorpus. Ausgeschieden wurden Texte, bei denen Zweifel bestehen, ob sie zur Gänze von Hölderlin stammen. Und es gibt auch ausgesprochen schlechte Gedichte unter den Turmgedichten, sagt Wondratschek, "in manchen sind Reime drin, dass es einem die Schuhe auszieht." Was übrig geblieben ist, ist eine "Essenz", bloße 34 Minuten, die es allerdings in sich haben. "Ich habe eine solche Stimme seit Oskar Werner nicht mehr gehört", sagt Wondratschek. Der Vergleich ist ihm ad hoc eingefallen, als er die CD in einem deutschen Radiosender vorgestellt hat, "und zu dieser Behauptung stehe ich." Dabei hat Reiners Stil nichts mit dem explosiven Pathos zu tun, mit dem Werner etwa Schillers Balladen vortrug. "Ich habe auch mit Pathos experimentiert", sagt Reiner, "aber das war überflüssig. In den Turmgedichten ist etwas, das nur mehr aufkeimt, das will nicht mehr explodieren."

Zu einem zentralen Moment der künstlerischen Auseinandersetzung wurde die Arbeit mit den Pausen, deren angemessene Länge es auszuspüren galt, nicht zu kurz, damit sich die Wirkung der Worte setzen kann, nicht zu lange, um die Konzentrationsfähigkeit der Zuhörer nicht zu überdehnen. Reiner hat die Turmgedichte öffentlich vorgetragen und auf die Reaktionen des Publikums geachtet, aber bei der Arbeit im Studio "gab es nichts, worauf ich mich verlassen kann". "Die Pausen waren das Risiko", sagt Wondratschek, jedoch als Manfred Eicher, der Chef des ECM-Labels nach Wien kam, habe er "mit seinem gewaltigen Gespür" sofort gemerkt, dass dies ein Risiko war, das einzugehen sich künstlerisch lohnt.

In der Tat ist Christian Reiners Einspielung von einer unerhörten, hypnotischen Intensität. Die karge, abstrakte Sprache Hölderlins: Tag, Schnee, Frühling, Schimmer, Himmel, Bilder, Sonne, Mensch, Licht. Reiners Stimme, die die alten Gluten in dieser erloschenen Sprache spüren lässt. Und ebenjene Pausen, die dem Zuhörer den Raum geben, inmitten des Schweigens nach seinen eigenen inneren Himmels-, Frühlings-, Schnee- und Sonnenbildern zu suchen.

Ein Schweigen, für das wir in unserer lärmenden Welt vielleicht gar nicht mehr gerüstet sind: "Wir haben gemerkt, dass das eine CD ist, die man gar nicht so ohne weiteres im Radio spielen kann", erzählt Wondratschek. Denn sobald im Radio einmal einige Sekunden Ruhe ist, sorgt die Technik, der sogenannte "Modulationswächter" sofort dafür, dass Musik eingespielt wird, dass keine Leere entsteht. "Die Maschinen sind schon so gepolt, dass der Mensch immer aufgefangen wird mit irgendwas. Wir halten die Stille nicht aus." (Christoph Winder, Album, DER STANDARD, 24./25.11.2012)