Ihre Kreationen stehen vor jedem Supermarkt, wenn sie Mist bauen, drohen Milliardenverluste: Der Band "Ever since I was a young boy I've been drawing cars" porträtiert die Egos und Nöte der neun wichtigsten Autodesigner unserer Tage
Der legendäre US-Designer Raymond Loewy, gemeinhin als Erfinder der Stromlinie verehrt und eine Art Caravaggio der industriellen Formgebung, war ein gnadenloser Ästhet. Vor allem aber war er Realist. Die schönste Linie, die er kenne, beschied Loewy, sei eine steigende Umsatzkurve. Ein Verdikt, dem sich bis heute jeder Automobildesigner unterzuordnen hat, so er auf dem Massenmarkt bestehen will. Diese verdammte Linie kennen sie alle, die in dem Band mit dem sehr elegischen Titel "Ever since I was a young boy I've been drawing cars" vereint sind.
Neun Autodesigner hat der Belgier Bart Lenaerts zwischen zwei Buchdeckeln versammelt. Ob es "die Besten" ihres Fachs sind, wie der Untertitel raunt, darüber lässt sich trefflich streiten. Es sind auf alle Fälle die erfolgreichsten, die Popstars der Branche. Neun Kreative, die das Erscheinungsbild eines Großteils des weltweiten Fahrzeugparks gestalten und gestaltet haben. Walter de' Silva (Volkswagengruppe), Ed Welburn (General Motors), Adrian van Hooydonk (BMW), Jean-Pierre Ploué (PSA), Gorden Wagener (Daimler), Laurens van den Acker (Renault), Peter Schreyer (Kia), J Mays (Ford/Lincoln) und Lorenzo Ramaciotti (Fiat) gewähren einen Einblick in ihren Arbeitsalltag, das Entstehen kreativer Prozesse und die jeweilige Umsetzung vom ersten Bleistiftstrich bis hin zum Serienmodell.
Design-Experten von eigenen Gnaden
Es ist ein schwieriger Job, den die Großmeister des Genres zu bewältigen haben. Ihre Architektenkollegen, die guten zumindest, erschaffen Prototypen, die sich mollig ins Stadtbild einfügen, oder - je nach Laune - einen schrillen Kontrapunkt setzen. Autodesign hingegen muss ubiquitär, in jedem Carport, in jeder Hotelauffahrt, gleichermaßen funktionieren.
Die Torheiten der Modedesigner sind indes nach einer Saison vergessen, während ein Automodell etwa acht Jahre im Programm bleibt und weitere zehn Jahre zum Straßenbild gehört. Schließlich wären da noch Kunden, heillose Fanboys und ideologisch aufmunitionierte Kritiker, die einem beim Skizzieren über die Schulter blicken. Autodesign lässt niemanden kalt.
Daran knabbern sie alle. Laurens van den Acker, seit drei Jahren Chefdesigner bei Renault, hat sogar richtig Schiss bei seinem Antreten in Frankreich gehabt - das lässt sich zumindest zwischen den Zeilen herauslesen. Dass abseits dieser Stimmungsbilder überraschend deutlich Kritik und Selbstkritik geübt wird, ist zweifellos eine Qualität von "Ever since I was a Young Boy ... ".
Reflektion und Selbstkritik
So gesteht Walter de' Silva, Chefdesigner der Volkswagen-Gruppe, freimütig ein, dass die Proportionen des Skoda Roomster "ziemlich unnatürlich" seien. Das mittlerweile sich selbst reproduzierende Design bei Audi verteidigt der Italiener hingegen leidenschaftlich ("Reihen Sie einmal alle Vorderansichten neuerer BMWs aneinander"), räumt aber gleichwohl ein, "wie schwer es ist, nun den nächsten Schritt zu machen".
Adrian van Hooydonk, unter Chris Bangle bei BMW für die herzhaft diskutierten 7er und 6er-Reihen der Nuller-Jahre verantwortlich - Stichwort Blunznheck - steht hingegen felsenfest hinter den damaligen Entscheidungen. (Über die man sich bei Audi wahrscheinlich heute noch freut.) Dass bei Mini aus einem Teig mittlerweile sieben Modelle aufgebacken wurden, ist für den Bangle-Nachfolger sogar der schlagende Beweis, "wie sorgfältig wir Mini zu einer Marke entwickeln." Naja.
Die Zehn-Sekunden-Entscheidung
Daneben gewährt Lenaerts in seinem opulent illustrierten Schaubuch einen Einblick in komplexe Arbeitsabläufe und spürt den vielfältigen Herausforderungen während der oft langwierigen Designfindungsprozesse nach. Heute schon Trends, Ideen zu identifizieren, die im Jahr 2020 in Serie vom Band laufen und sie mit den vielfältigen Anforderungen aus der Technik-Abteilung zu verschmelzen, ist zweifelsohne ein Hochrisikojob. Dennoch tröpfelt manchmal etwas zu viel Selbstmitleid aus den Buchseiten ("Wir entwickeln über Jahre hinweg ein Design, und der Kunde entscheidet in zehn Sekunden: Das gefällt mir, und das gefällt mir nicht.") - als arme Künstlerseele will sich indes keiner der Porträtierten sehen.
Es ist Bart Lenaerts Verdienst, angesichts dieser Top-Entscheider von multimilliardenschweren Konzernen nicht in Idolatrie zu verfallen. Nur manchmal würde man sich etwas kritischere Distanz, die eine oder andere konkrete Nachfrage wünschen. Derlei verhindert nicht zuletzt die gewählte Darstellungsform, die Erzählung aus der Ich-Perspektive.
Der Mensch hinter den Formen
Dennoch kommt der Autor, ein profunder Kenner der Szene, nicht in den Geruch, bloß neun Hagiographien aneinander zu reihen. Viel mehr rückt er die Menschen hinter den Marketing-Formeln in den Mittelpunkt. Am unmittelbarsten wird "Ever since I was a Young Boy ..." dann auch, wenn Lenaerts Autozeichnungen aus der Kindheit seiner Hauptdarsteller, faksimilierte Skizzenbücher oder die Arbeitsplätze der Kreativen in den Blickpunkt rückt. Unterschiedlicher könnten die jeweiligen Refugien von Gorden Wagener oder Peter Schreyer gar nicht sein.
Nur eines scheint diese neun Automobildesigner zu einen: die Gewissheit, dass nach Jahren des Tüftelns, Verwerfens, Streitens, Neu- und Umgestaltens, kurzum, nachdem endlich die perfekte Form für einen Haufen Technik gefunden wurde, schlussendlich nur eines zählt: Loewys Lieblingskurve, die verdammte. (Stefan Schlögl, derStandard.at, 27.11.2012)