Paul Hollander

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Paul Hollander sitzt zwischen vielen Stühlen. Als konservativer weißer Europäer ist er seinen politisch korrekten amerikanischen Studenten suspekt. Mit dem umweltbewussten Naturfreund können die Neo-Cons wenig anfangen. Sozialwissenschaftlichen Kollegen ist er zu wenig zahlengläubig und amerikanischen Freunden zu europäisch. Doch er scheint den unbequemen Platz zu genießen. Der aus Ungarn gebürtige Hollander flüchtete über Wien nach London, wo er 1957 an der LSE zu studieren begann, und ging kurz danach in die USA. Seit vielen Jahren ist er Soziologieprofessor an der U. of Massachusetts in Amherst: ein unangepasster Denker, mehr Historiker als Zahlenfetischist, Nabokovs Professor Pnin nicht unähnlich. Die Spannung und die Entfernung zwischen der Alten und der Neuen Welt beschäftigen ihn seit seiner Emigration. Das Gespräch mit ihm fand in seinem Garten in Northampton, Mass., in Anwesenheit seines tibetischen Terriers Sophie statt und wurde durch einen kurzen E-Mail-Austausch ergänzt.

Der ungarisch-amerikanische Soziologe Paul Hollander über vernünftige Kritik und irrationalen Anti-Amerikanismus. Im Gespräch mit Michael Freund. Mitarbeit: Kurt Freimüller.

Freund: Was ist Ihr Hauptargument zum neuen Anti-Amerikanismus, den Sie seit dem 11. September orten?

Hollander: Das Ereignis brachte neue Varianten eines alten Gefühls hervor, sowohl im Ausland wie hier. Woraus es immer hinausläuft, ist, dass alles die Schuld der Amerikaner ist. Die USA ist so verhasst, vor allem in der arabischen Welt, dass es für alles eine Rechtfertigung gibt – wenn auch keine rationale Basis.

Freund: Gilt das auch für Europa?

Hollander: Nein. Da gilt es Unterscheidungen zu treffen. Das war früher eher eine kulturelle Angelegenheit, das ging immer um die amerikanische Massenkultur. Schauen Sie, ich verachte sie auch ...

Freund: Warum?

Hollander: Warum? Aus offensichtlichen Gründen! Weil sie hirnlos ist, dumm, voller Gewalt, weil sie die Menschen von Besserem abhält. Das Traurige ist, dass die Leute das wollen. In Europa genauso. Meine Grundannahme über den Anti-Amerikanismus ist, dass er einen Protest gegen die Moderne darstellt. Die hat ihre Vor- und Nachteile, und man findet die auch in Europa, das man ja auch zur Moderne zählen kann.

Freund: In mancher Hinsicht halte ich Europa für moderner als Amerika.

Hollander: Und in anderen Hinsichten weniger. Zum Beispielen überleben Traditionen in Europa besser, das Familienleben etwa, ....

Freund: Halten Sie das für gut oder schlecht?

Hollander: Eher für gut. Es gibt auch weniger soziale Mobilität, was eine zweischneidige Angelegenheit ist. Mobilität ist schlecht für die Gemeinschaft, aber gut für individuellen Aufstieg. Es geht also um inkompatible Angelegenheiten, und das genau macht die Moderne aus. Und inwieweit ist Europa moderner? Schwer zu sagen. Mir fallen eher triviale Dinge ein, wie etwa, dass manche Technologien dort avancierter sind, dass die Verkehrsinfrastruktur besser ist. Ob man einen besser finanzierten, höher entwickelten Wohlfahrtsstaat zur Moderne rechnet, das wäre zu diskutieren.

Freund: Aus der Perspektiven der Neo-Konservativen, denen Sie ja zuzurechnen sind, ist der Wohlfahrtsstaat doch eher etwas Überholtes.

Hollander: Ja, aber meine politischen Überzeugungen fügen sich nicht zu einem nahtlosen Ganzen. Zum Beispiel bin ich ein überzeugter Umweltschützer, was man von der gegenwärtigen Regierung nicht sagen kann.

Freund: Von Clinton auch nicht unbedingt.

Hollander: Unter Clinton wurde immerhin viel Geld für Nationalparks und Ähnliches lockergemacht. Wie auch immer, es nimmt ja auch in Europa etwa die Bereitschaft ab, auf das Auto zu verzichten. Ist ja auch bequemer. Und allgemein würde ich sagen, dass Amerika wohl einige der extremen Formen der Moderne repräsentiert. Sie setzen sich auch in Europa durch, und Europa liefert Rückzugsgefechte dagegen.

Freund: Sie glauben also nicht, dass Europa einmal wirtschaftlich und ideologisch stark genug sein wird, seine eigene Position zu bestimmen? Was dann kein Rückzugsgefecht wäre, sondern eine Alternative.

Hollander: Möglich ist es. Ich bin aber – unabhängig von der Haltung gegenüber den USA – skeptisch, was die wachsende Zentralisierung und Reglementierung der EU anbelangt. Ich kritisiere auch, wenn wir schon dabei sind, die anti-israelische und pro-arabische Haltung Europas, speziell die Unterstützung, die Frankreich Arafat geboten hat. Und im übrigen finde ich, dass man den Sturz von Saddam Husseins Regime auch ohne die Frage der Massenvernichtungswaffen unterstützen hätte sollen.

Aber wir haben ja noch gar nicht von dem anderen wichtigen Aspekt geredet, diesem the only superpower business. Europa hätte Kosovo etwa nicht alleine lösen können, und seither ist das – verständliche - Ressentiment nur noch größer geworden. Schwer, sich da zu einer klaren Meinung durchzuringen – auch was Probleme wie das Kioto-Abkommen betrifft oder diese Sache mit dem Internationalen Gerichtshof. Und zu allem kommt noch das alte europäische Bild von Amerika dazu: dieser unzivilisierte Emporkömmling.

Freund: Mit welchen europäischen Kritikern Amerikas haben Sie die größten Probleme?

Hollander: Eigentlich hab ich mit den amerikanischen Kritikern die größten Probleme.

Freund: Also Chomsky & Co.

Hollander: Ja, oder Gore Vidal, oder Susan Sontag. Deren Abneigung gegen Amerika ist so intensiv und so irrational und deren Urteil so schwach, es ist einfach unfair. Schauen Sie, Chomskys Prinzip lautet: Wer immer gegen Amerika ist, hat Recht. Die Feinde der USA sind seine Freunde.

Freund: Eine vielleicht ketzerische Gegenfrage: Gilt Ähnliches nicht auch für seine Kritiker? Dass sie finden, was immer er sagt, ist falsch, weil er ja verrückt ist?

Hollander: In meinen Augen ist er auch verrückt. Ich beobachte seine Veröffentlichungen seit Jahrzehnten. Er war ein berühmter Linguist, und seit Vietnam ist er dieser berufliche Sozialkritiker von der irrationalsten Sorte. Bei ihm weiß man auch nicht, ob er die USA oder Israel mehr hasst. Man sagt von ihm, dass er der klassische Fall von jüdischem Selbsthass sei. Bei Sontag hingegen sehe ich eher die Abneigung gegen die Massenkultur, die Orientierung an der französischen Szene – das ist für mich eine Frage der Elite-Zugehörigkeit. Ich bin auch gegen die genannten Leute, weil sie immer gemeinsame Sache mit linksradikalen Bewegungen machen. Sontag zum Beispiel mit Castros Kuba und mit Vietnam. Solcherlei find ich verwerflicher als die europäische Kritik.

Freund: Warum eigentlich? Darf man sein eigenes Land nicht kritisieren?

Hollander: Ich finde, die Ausländer haben bessere Gründe für ihre Haltung; die Mexikaner beispielsweise – da gibt es gute geschichtliche Gründe, die USA waren immerhin eine imperialistische Macht dort. Die „inländische“ Kritik ist so vermischt mit dieser „Entfremdungs“-Chose der Sechzigerjahre. Auch da gibt es in Wirklichkeit eine Anti-Moderne-Haltung. Deren Bestandteile sind (a): Die Gemeinschaft liegt in der modernen Gesellschaft in Trümmern, (b) es herrscht eine Sinnlosigkeit vor. Aber ich finde, Freiheit und Sinnlosigkeit gehen Hand in Hand. In traditionellen Gesellschaften gibt es viel Sinn und wenig Freiheit, in westlichen ist es wohl umgekehrt. Was Amerika noch von Europa unterscheidet, wenn auch nicht mehr so stark wie früher: diese Art von ideologischem Alles-geht (free-for-all) – dass hier jeder eine Kirche, eine philosophische Schule gründen oder sonst was Neues beginnen kann. Das Gute daran ist die Freiheit; das Problem ist, dass hier jede Menge Narren den anderen „Sinn“ eintrichtern will.

Freund: Sie zeigen in Ihrer Äußerungen eine eher ironische Haltung zu der political correctness an amerikanischen Unis.

Hollander: „Ironisch“ ist ein Untertreibung. Ich habe sie immer schärftens kritisiert.

Freund: Wie reagieren die Studenten darauf?

Hollander: Ich habe nicht viele graduate students (nach dem College, ab dem 5. Studienjahr), weil PC und linke politische Haltung Hand in Hand gehen. Außerdem sind Einwände gegen „Eurozentrismus“ ein zentraler Bestandteil der PC. Alles zusammen ergibt gewisse Schwierigkeiten.

Freund: Gibt es für Sie auch weniger „irrationale“ Formen des Anti-Amerikanismus als die von Ihnen aufgezählten?

Hollander: Ja, und die würde ich auch nicht als „Anti-Amerikanismus“ bezeichnen. Manchmal sind das dieselben Leute, die können auch rational sein, in ihrer Haltung gegenüber Bush etwa, was Energiepolitik betrifft. Das heißt nichts anderes, als diese Defekte zu sehen, ohne deswegen das Land in Bausch und Bogen zu verdammen. Ich habe die letztere Haltung schon vor mehr als 20 Jahren verurteilt, in einem Buch über „Politische Pilger“, in dem ich die frühen Formen anti-westlicher Haltung beschrieben habe, von Leuten wie Sartre, de Beauvoir, Aragon, Feuchtwanger, die Webbs in England.

Freund: Kennen Sie – heute – europäische Kritiker Amerikas, mit denen Sie sich eher auseinandersetzen würden?

Hollander: Nun ... (lange Pause) – also nicht Günter Grass.

Freund: Warum nicht?

Hollander: Er hat auch diesen tief sitzenden Anti-Amerikanismus. Er war ja sogar für die DDR, als das Regime dort noch existierte.

Freund: Nicht wirklich, finde ich. Aber haben Sie in Ihren Augen positivere Beispiele?

Hollander: György Konrad, ein enger Freund von mir. Wir teilten die Schulbank. Jetzt ist er Präsident einer deutschen Kulturakademie. Ich besuche ihn immer, wenn ich in Europa bin. Er hatte auch diese Abneigung gegen Amerika unter ästhetischen Gesichtspunkten. Doch dann war er ein Jahr lang auf der NYU, und er liebte es.

Freund: Wie können Sie die Ihrer Ansicht berechtigte von der unberechtigten Kritik unterscheiden? Ohne „große Theoriebildung“ oder „Numbercrunching“ zu betreiben – was Sie, wie Sie sagen, als soziologische Arbeitsweisen eher ablehnen.

Hollander: Man muss bloß die Aussagen und Haltungen auf ihren Wert überprüfen ....

Freund: So wie Isaiah Berlin das vorgegeben hat?

Hollander: .... ja, zum Beispiel: Wenn die Mexikaner behaupten, sie hätten eine Dürre auf der Yukatan-Halbinsel, weil die Amerikaner die Wolken umgeleitet hätten, dann muss man das prüfen – und es stellte sich als Unsinn heraus. In den „Politischen Pilgern“ zitiere ich eine Umfrage unter kanadischen Intellektuellen, wen sie für den verabscheuungswürdigsten Politiker des 20. Jahrhunderts hielten – und da rangierte Reagan vor Stalin. Das ist purer Anti-Amerikanismus; und es ist irrational – in so einem Fall ist das selbstevident.

Freund: Sie sagten einmal: Über soziopolitische Themen zu reden, ohne empirische Evidenz zu haben, das degeneriere zu purer Spekulation, Polemik oder Journalismus (wobei diese Aufzählung mir ein wenig Unbehagen bereitet). Was meinen Sie damit?

Hollander: Ich wende mich da ganz allgemein gegen das Schreiben, ohne dass man Evidenz für den Wahrheitsgehalt hat. Aber ich hatte mal einen Professor auf Princeton, der kritisierte meine Arbeit: das sei mehr hochkarätiger Journalismus als empirische Soziologie. Das stört mich bis heute nicht.

Freund: Sie fahren oft nach Europa, nicht nur nach Ungarn, sondern auch in viele andere Länder. Was mögen Sie am meisten, was am wenigsten im Vergleich mit den Staaten?

Hollander: Das Meiste, was ich an Europa mag, hat mit Kultur und mit ästhetischen Kategorien zu tun. Amerikanische Städte und Dörfer finde ich sehr unattraktiv – mit Ausnahme Neuenglands. Das Amerika von Menschenhand ist zum Großteil für mich einfach nicht anziehend. Und – vielleicht idealisiere ich jetzt – mir kommen menschliche Beziehungen dort noch stabiler, weniger verrückt vor als in Amerika. Was ich an Amerika mag: die Natur, outdoors, hier im Westen von Massachusetts bin ich viel und gern draußen. Außerdem auf der Plus-Seite: Ein Ausländer zu sein, bedeutet hier kein Stigma; in einer offenen Gesellschaft kümmert sich keiner um deinen Akzent. (ALBUM/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6.7.2003)