Kein Staat der Welt würde es reaktionslos hinnehmen, einen Teil seines Territoriums unter häufigem, zeitweise ständigem Raketenbeschuss zu sehen, ganz unabhängig davon, wie die Genesis dieser Situation ist. Nur wenige Länder haben ganz offiziell das Instrument von extralegalen Tötungen im Repertoire. Und dieses genau dann einzusetzen, wenn eine Deeskalation der Lage - eine Waffenruhe - in Reichweite ist, hat natürlich nicht so sehr etwas mit primären Sicherheitsinteressen zu tun, sondern mit handfesten strategischen Überlegungen. Ob sie aufgehen, ist eine andere Frage. Sicher ist nur, dass auf beiden Seiten noch mehr Menschen sterben werden.

Bei einem Schlagabtausch zwischen Israel und dem Gazastreifen stellt sich schnell einmal ein Déjà-vu ein - aber diesmal ist einiges anders und umso gefährlicher. Die Hamas hat sich seit dem Krieg zum Jahreswechsel 2008/2009 eher im Hintergrund gehalten: Sie kontrolliert längst nicht mehr alle noch radikaleren Gruppen, benützte deren Gewalt gegen Israel dennoch ganz geschickt für ihre eigenen politischen Zwecke. Diesmal ist sie wieder voll dabei.

Dabei spielen innere und äußere Faktoren mit: Es gibt interne Spannungen, verursacht durch die neue regionalpolitische Positionierung der Hamas durch den Arabischen Frühling und den Aufstand in Syrien. Durch ihren Bruch mit dem syrischen Regime und durch den Aufstieg der Muslimbrüder in Ägypten - die Hamas ist ja nichts anderes als der palästinensische Zweig der Brüder, mit einer eigenen Geschichte durch den Konflikt mit Israel - steht die Gesamtorganisation im politischen Spektrum anders da, ohne sich selbst verändert zu haben. Aber den Iran gibt es auch noch immer, der seinen Stellvertreter im Süden Israels nicht aufgeben will. Und auch die Hamas in Gaza will nicht auf die iranische Unterstützung aller Art, Stichwort Waffen, verzichten.

Wobei die Muslimbrüder in Ägypten zu den Adressaten der jetzigen Eskalation gehören: Auch wenn Präsident Mohammed Morsi nun den ägyptischen Botschafter aus Tel Aviv heimholt, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass das neue Ägypten nicht viel anders agiert als das alte. Die versprochene Gaza-Grenzöffnung hat nicht stattgefunden, und die Hamas ist ihren eigenen Leuten gegenüber im Erklärungsnotstand.

Ein anderes Motiv teilen sich die Hamas und Israel: das Anerkennungsansuchen der Palästinenserbehörde in der Uno-Generalversammlung. Auch wenn es den Palästinensern am Boden nichts bringen wird - außer neuen Eskalationsgefahren -, kann Präsident Mahmud Abbas und seine Fatah doch zumindest auf einen Popularitätsschub hoffen. Die Hamas kann nicht einmal mehr Träume bieten.

Und Israel kommt es gerade recht, wenn Abbas auf einem Pulverfass steht, wenn er am 29. November das Uno-Ansuchen stellt: Umso mehr werden alle - allen voran US-Präsident Barack Obama - versuchen, ihm das auszureden.

Und dann ist auch noch Wahlkampf in Israel. In einer immer labileren Nahostwelt rund um das Land, das gerade dabei ist, den verhassten, aber in der Summe recht verlässlichen Nachbarn Assad zu verlieren, kommt eine Demonstration der Stärke der Regierung gut an. Umso mehr, wenn man sie an einer anderen Front, der iranischen, absagen musste und dafür einige oppositionelle Häme eingefangen hat. (DER STANDARD, 16.11.2012)