"Seit dem Trauma von 1994, dem Fastkonkurs, ist Existenzsicherung das oberste Gebot bei Rapid. Aber wenn man international wieder nach oben will, dann braucht es eine Vision und Mut zum kalkulierten Risiko".

Foto: Domenico Jacono

Wien - "Rapid war immer das Um und Auf im österreichischen Fußball", betont der treue Westtribünenbesucher und Buchautor Domenico Jacono, der das Geschehen beim SK Rapid Wien seit über drei Jahrzehnten als aktiver Fan verfolgt. Das Anspruchsdenken der Fans korreliert jedoch seit längerem nicht mehr mit den Zielvorgaben des Vereins, der seit dem "Trauma von 1994 ohne Visionen verwaltet" wird. Im Gespräch mit Thomas Hirner prangert Jacono die veralteten Strukturen bei den Hütteldorfern an und erklärt, warum es nach dem durch 9/11 ausgelösten Sicherheitsdenken, zu einer Radikalisierung der Fans kam.

derStandard.at: In letzter Zeit mehren sich die kritischen Stimmen gegen die Rapid-Führung. Wer ist für die sportliche Misere verantwortlich? 

Jacono: Auch wenn ich damit meinen Job als Museumskurator riskiere: Verantwortlich in einem Unternehmen sind immer die Entscheidungsträger. Persönliche Schuldzuweisungen sind aber wenig hilfreich, das System und seine Träger kranken. Zum einen sehe ich eine Lethargie der Entscheidungsträger, die ganz stark auf dem Trauma von 1994, dem Fastkonkurs, fußt. Seither ist Existenzsicherung das oberste Gebot, der Verein wird ohne Visionen verwaltet. Das aber widerspricht dem Anspruchsdenken bei Rapid. Rapid war immer das Um und Auf im österreichischen Fußball, das ist Teil der grün-weißen Identität.

derStandard.at: Was genau braucht es also?

Jacono: Wenn man aber Rapid national an der Spitze halten und international wieder nach oben will, dann braucht es eine Vision und Mut zum kalkulierten Risiko, um diese Vision umzusetzen. Als Beispiel möchte ich an dieser Stelle Dionys Schönecker, die bestimmende Figur von Rapid von 1910 bis 1938, anführen. Seine Vision war, Rapid zur erfolgreichsten Mannschaft Europas zu machen, was ihm zum Teil auch gelungen ist. Heute gibt es aber nur wenige Visionäre im Verein. Andy Marek, ist einer von ihnen, auch die Macher des Rapideums, das kürzlich einen Anerkennungspreis auf den österreichischen Museumspreis bekommen hat. Aber die größten Visionäre sind die Fans geblieben. Der Block West ist europareif, die Ultras Rapid haben schon 2005 den internationalen Choreo-Preis gewonnen. Rapidfans sind "europäische Weltklasse", um sich mit Mario Sonnleitner auszudrücken.

derStandard.at: Und das zweite Problem?

Jacono: Das zweite Problem ist ein strukturelles. Das Organigramm des Vereins hat sich seit 1899 nicht wirklich geändert. Das Präsidium als Entscheidungsgremium ist ehrenamtlich tätig, nur teilzeitbeschäftigt, seine Arbeit ist nicht transparent. In der Satzung steht sogar, dass die Präsidiumsmitglieder zu Geheimhaltung verpflichtet sind. Und dieses Geheimniskrämerische zieht sich hinunter bis zum Zeugwart. Auch die Wahl des Präsidenten ist mit demokratischen Prinzipien, wie sie ein Mitgliederverein leben sollte, nicht vereinbar. Das Wahlkomitee, ein ständestaatlicher Zerberus, der sich aus Vertrauenspersonen der Führung zusammensetzt, schlägt einen Kandidaten vor. Das einfache Mitglied darf ihn dann zum Präsidenten wählen oder ablehnen. Dieses Struktur lässt Kompetenz von außen kaum zu. Und die gibt es, zu Hauf! Mitgliederinitiativen wie "Rapid bin ich" sind ein Beispiel dafür. Zahlreiche engagierte und kompetente Mitglieder haben sich hier schon die Zähne ausgebissen. Sie werden zwar gehört, umgesetzt wird aber wenig.

derStandard.at: Woran hapert es noch?

Jacono: Womit soll ich anfangen? Die Geschäftsstelle ist unterbesetzt, viele Mitarbeiter der unteren und mittleren Ebene sind überfordert und noch dazu unterbezahlt. Engagement und Innovationskraft reiben sich so im Alltag auf. Und wenn ich wie bei Daniel Mandl (abseits.at) lese, wie unser Scouting läuft, dann wird mir schlecht. Das ist einfach nur dilettantisch! 

derStandard.at: Meist wird der Trainer ausgewechselt, wenn es nicht rund läuft. Welchen Anteil hat Peter Schöttel an der momentanen Situation?

Jacono: Er steht an der Spitze der sportlichen Leitung. Wenn ein Kopf gefordert wird, dann natürlich seiner. Schöttel muss aber auch für Defizite herhalten, für die er nicht verantwortlich ist, z.B. für die immer noch fehlende Nachwuchsakademie, hier ist Rapid um Jahre hinten, wohlgemerkt bezogen auf Österreich. Auch für die Strukturschwächen der österreichischen Trainerausbildung, deren Produkt er letztendlich ist, kann er nichts.

Dazu kommt, dass die Spielkultur im Verein immer eine offensive war. Die Trainer Pacult und Hickersberger waren Offensivspieler und das Trainerwesen ist auch eine Charaktersache. Ein guter Verteidiger ist verlässlich, aber irgendwie auch bieder. So wie Schöttel, aber das ist mit einer offensiven Spielkultur, wie sie in der Mentalität Rapids festgeschrieben ist, schwer vereinbar.

derStandard.at: Man will nun einen Sportdirektor installieren. Ein wichtiger Schritt?

Jacono: Das kommt auf die Person an. Wenn das wieder einer ist, der über den alpenländischen Tellerrand nicht hinausschaut, dann wird sich wenig ändern. Wenn ein international ausgebildeter und erfahrener Mann kommt, der die Vereinsmentalität versteht und das Potenzial von Rapid erkennt, kann es nur besser werden. Wenn so ein Mann auch noch die nötige Macht bekommt, dann bleibt ohnehin kein Stein auf dem anderen. Ob das aber vom derzeitigen Establishment gewünscht ist?

Ich verstehe auch diese Scheu vor Außenstehenden nicht. Angeblich hat sich nach dem Rauswurf von Pacult Eli Guttman angetragen, er hätte mit Vermouth und Shechter zwei seiner besten Spieler von Hapoel Tel Aviv mitgenommen.

derStandard.at: Sie schreiben an einem Buch mit dem Titel "Religion Rapid". Was darf man sich von dem Werk erwarten? Eine Art Bibel für Rapidfans?

Domenico Jacono: Es geht um die Geschichte der Anhänger des SK Rapid. Und wenn man bei diesem Bild bleibt, dass Rapid eine Religion sei, dann könnte man sagen, es wird ein Buch über eine Glaubensgemeinschaft sein. Davon abgesehen ist Rapid eine verbindende Idee mit Tradition und einem Wertesystem, dessen Kit der Zusammenhalt ist. Das wirkt in der heutigen Welt voller Ich-AGs irgendwie überholt. Trotzdem geht es bei Rapid darum, dieses Gemeinschaftsgefühl zu leben, oder es zumindest zu versuchen. Deshalb die vielbeschworene Parallele zum Religiösen, die man natürlich nicht ganz wörtlich nehmen sollte.

derStandard.at: Was denken Sie als Fan und Autor über Begriffe wie "St. Hanappi" oder "Hütteldorfer Kathedrale"? 

Jacono: Als Fan im Stadion denke ich gar nicht. Da stehe ich im "Block West", mache Stimmung und fühle Freude, ja, eine Art pseudoreligiöse Verzückung, eine Trance, aber auch Wut, Trauer, Aggression; Emotionen eben. Es hat aber auch eine Sakralisierung des Fantums eingesetzt, die ideelle Begriffe wie "St. Hanappi" schafft oder aufnimmt, in Abgrenzung zu der neuen Realität des Fußballs seit den 90er-Jahren, seit Bosman, seit der umfassenden Professionalisierung, Kapitalisierung und Medialisierung. "St. Hanappi" ist natürlich auch Ausdruck eines guten Marketings. Spätestens seit Adorno wissen wir ja, dass die Unterhaltungsindustrie alle Ideale zu Geld macht.

derStandard.at: Der Fan hat sich demnach in den letzten Jahren stark verändert...

Jacono: Ja, und zwar in einem Wechselverhältnis. Die Sakralisierung des Fantums ist nur ein Aspekt. Mehr Geld ist im Spiel und der gesellschaftliche Stellenwert von Fußball ist höher, die Medien sind dominanter geworden, vor allem der Boulevard, der zwangsläufig sensationslüstern ist und aktive Fans reißerisch als böse schubladisiert. Dahinter steht auch ein gesellschaftliches Umdenken, das durch eine Sicherheitsphobie, die seit 9/11 eingesetzt hat, geprägt wurde.

derStandard.at: Welche Auswirkungen hat das auf die Fans?

Jacono: Diese Angst des Systems zeigt sich auch im Umgang mit Randgruppen wie Fußballfans, die mit unverhältnismäßiger Repression konfrontiert sind. Hierzulande trifft das in erster Linie die Szene Rapids, nicht nur die größte, sonder auch am besten organisierte. Auf der anderen Seite haben sich die Fans durch diese Veränderungen auch politisiert. Sie kritisieren und verstehen sich als Hüter von Werten, die das Kapital mit Füßen tritt. In der heutigen Welt, in der Jugendliche großteils gleichgeschaltet sind, bilden Fußballfans eine Subkultur, die gesellschaftskritische Inhalte transportiert, sich auch gegen die Polizei als Exekutor des gesellschaftlichen Systems wendet. Was natürlich Probleme schafft. 

derStandard.at: Wie war das vor rund 30 Jahren?

Jacono: Als ich Fan wurde, war die Polizei ein Hindernis aber kein Feind, für die heutigen aktiven Fan ist die Polizei per se ein Feindbild, schon allein auf Grund des hochgerüsteten Erscheinungsbildes der Sondereinheiten, die es damals gar nicht gab. Im Zusammenspiel mit Politik und Justiz agiert die Polizei heute zunehmend repressiv, weil Fans als systemgefährdende Elemente wahrgenommen werden. Man geht gegen Fußballfans wie gegen Schwerkriminelle oder Terroristen vor, und das betrifft auch andere Randgruppen, wie die versuchte Verunglimpfung der Tierschützer als "kriminelle Vereinigung" gezeigt hat. (Thomas Hirner, derStandard.at, 15.11.2012)

Teil zwei des Interviews beschäftigt sich am Freitag mit den Fragen zu einer laschen Außendarstellung Rapids, dem Risiko, sich einem Großsponsor anzuvertrauen, dem Potenzial Rapids, den Ultras, Platzsturm, Causa Westbahnhof, der Sinnhaftigkeit von Stadionverboten, Pyrotechnik und Stadion-Neubau.