Lothar Müller ist überzeugt, dass sich Papier aus zentralen Lebensbereichen zurückgezogen hat, aber in anderen unverzichtbar bleibt.

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Er sprach mit Anita Zielina über digitale Papierkörbe, aussterbendes Papiergeld, entschleunigende Zeitungen und Gutenbergs überschätztes Erbe.

STANDARD: Wenn heute von der Opposition zwischen Internet und Papier gesprochen wird, wird meist das Buch als Beispiel der analogen Welt genannt. Ein gutes Beispiel?

Müller: Die mächtigste Opposition, die zurzeit immer wieder bemüht wird, ist die von Buch und Netz. Das Buch steht stellvertretend für die Gutenbergwelt, die wir langsam verlassen. Der Fehler ist: Der eigentliche Kern der Debatte sollte das Papier sein, nicht das Buch. Papier ist älter als das gedruckte Buch und vielfältiger. Unsere Übergangszeit verstehen wir besser, wenn wir eine Perspektive haben, die nicht Gutenbergs Druckerpresse als zentrales Element annimmt.

STANDARD: Sie sprechen von einer Übergangszeit. Von welcher Epoche bewegen wir uns wohin?

Müller: Die digitalen Technologien werden in unserem Medienalltag an Bedeutung gewinnen. Momentan haben wir eine Parallelität von Technologien. Wir sind selber zu Mischwesen geworden, aus digitalen Technologien und angelernten analogen Routinen. Ich kann noch nicht sehen, wie sich dieses Verhältnis dauerhaft entflechten wird und welche Ausdrucksformen sich durchsetzen werden. Mein Ansatz ist es, nicht Zukunftsprognosen zu entwickeln, sondern die Vergangenheit mit den Fragestellungen zu betrachten, die sich aus der Digitalisierung ergeben. Wir verstehen die digitalen Formate besser, wenn wir ihre analogen Vorläufer kennen.

STANDARD: Umbruchszeiten verleiten gerne zu Untergangszenarien: Immer wieder wird darüber gerätselt, ob die gedruckte Zeitung, das Papiergeld, das Buch tot sind oder im Sterben liegen.

Müller: Auf der einen Seite gibt es tatsächlich diese Bewegung. Was etwa das Geld angeht, ist es offenkundig: Papiergeld ist weitgehend von Plastik abgelöst worden. Auch die Werte, die an der Börse hin und her gehen werden elektronisch vermittelt. Da hat sich das Papier aus zentralen Bereichen zurückgezogen und wird sie auch nicht wiedererobern. Auf der anderen Seite hat Papier in vielen Verwendungen nach wie vor unverzichtbare Funktionen.

STANDARD: Sprechen wir von gedruckten Werken, etwa Zeitungen und Büchern. Wie wird es mit ihnen weitergehen?

Müller: Zeitung und Buch gehorchen unterschiedlichen Logiken. Die Zeitung ist ein ganz anderes Produkt als das Buch, sie ist geprägt von Aktualität und Periodizität. Mit ihrem schnell getakteten Erscheinen ist sie anfälliger für die Überführung in die digitale Erscheinungsweise als das gedruckte Buch.

STANDARD: Wenn wir von Papier sprechen, dann differenzieren wir zwischen Buch, Zettel, Zeitung, Karteikarte - im Gegensatz dazu wird aber oft " das Internet" bemüht. Haben wir noch nicht gelernt, die digitale Welt richtig zu strukturieren?

Müller: Ich glaube, wir stehen noch ganz am Anfang. Wir wissen nicht, wie sich unsere analogen Routinen ins digitale Morgen übersetzen werden. Was ist eigentlich das exakte digitale Gegenüber einer Papier-Zeitungsseite? Was das einer Rückseite? Was das eines Blattes Papier? Das habe ich einen Kollegen gefragt, der für die Tablet-Version der Süddeutschen Zeitung zuständig ist. Darauf hat er geantwortet: "Am Konzept Seite wird noch gearbeitet." Ich empfand das als eine ganz gute Statusbeschreibung unserer momentanen Orientierungsphase.

STANDARD: Was bedeutet das für Medienschaffende und Autoren?

Müller: Wir müssen uns fragen: Wollen die Nutzer die konstante Aktualisierung einer elektronischen Zeitungsseite? Oder wollen sie das auf Dauer gar nicht, sondern lieber entlastet und entschleunigt werden? Die zentrale Erfindung im Bereich TV war meiner Ansicht nach nicht die Einführung des Farbfernsehens, sondern die der Fernbedienung. Das beinhaltete eine Explosion von Optionen beim Medienkonsum. Dadurch ist dem Kino die Qualität zugewachsen, dass es ein Ort ist, an dem man nicht umschalten kann, ein Ort der begrenzten Möglichkeiten. Dieser Ort konnte das Kino erst werden, indem durch die Fernbedienung das Umschalten zur täglichen Realität wurde.

STANDARD: Das gedruckte Medium könnte also das Kino unserer Zeit werden, mit dem Nicht-umschalten-Können als Berechtigung?

Müller: Es kann gut sein, dass beim Leser auf Dauer das Bedürfnis wächst, von Optionen entlastet zu werden. Verspätung und Entschleunigung sind nicht unbedingt ein Todesurteil für den journalistischen Text. Die Sportzeitungen am Montag sind das beste Beispiel: Sie entdecken narratives Potenzial in dem, was bereits geschehen ist, sie nähern sich dem Feuilleton an. Mindere Aktualität muss nicht mindere Attraktivität zur Folge haben.

STANDARD: Bei der Debatte um die Opposition zwischen Internet und Papier entsteht der Eindruck, dass es stark ums Transportmedium geht, weniger um Inhalte.

Müller: Der Grund dafür ist, dass die Erfahrung des Neuen noch so bedrängend ist, dass die Technologien momentan selber als Hauptfiguren erscheinen. Was wir durch diese Kanäle schicken, nehmen wir erst in zweiter Linie wahr. Klar ist: Der Kanal beeinflusst den Inhalt, stilistisch und rhetorisch, und die Sprache, in der wir schreiben, verändert sich mit dem Medium.

STANDARD: Sie sagen, "digitales Papier" betreibt immer erfolgreicher Mimikry mit analogem Papier.

Müller: Es sind die typischen Kindheitsphänomene neuer Medien, dass sie bei ihrem ersten Auftreten Mimikry mit denen betreiben, die sie beerben und ersetzen wollen. Der elektronische Papierkorb raschelt, weil es eine Vertrautheitsanmutung herstellt. Für manche Dinge gibt es noch kein Äquivalent in der digitalen Welt. Das kulturelle Prestige des Autors ist oft noch an das kulturelle Prestige des gedruckten Buchs gebunden, da können E-Books noch so erfolgreich sein - die Aura des gedruckten Wortes bringt sich erfolgreich in Stellung. (Anita Zielina, DER STANDARD, 14.11.2012)