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BBC-Chef Entwistle und Oberster Rundfunkrat Patten Samstagabend mit Remembrance-Day-Abzeichen und betretenen Gesichtern.

Foto: AP/MAX NASH

Dem bekanntesten öffentlich-rechtlichen Sender der Welt steht eine radikale Umorganisation bevor. Am späten Samstagabend erklärte BBC-Generaldirektor George Entwistle seinen Rücktritt nach lediglich 55 Tagen Amtszeit. Der 50-Jährige stolperte über seine zögerliche Vorgehensweise im Skandal um Sexualverbrechen eines früheren BBC-Entertainers; zudem musste er die Verantwortung dafür übernehmen, dass investigativen Reportern des Senders haarsträubende Fehler unterliefen. Bei der BBC gebe es "mehr Führungspersonal als in der Kommunistischen Partei Chinas", kritisierte Chris Patten, Vorsitzender des Rundfunkrats, "wir brauchen einen gründlichen, radikalen Strukturwandel."

Die Rundfunkanstalt steht seit Wochen in der Kritik wegen ihres im Oktober 2011 verstorbenen Stars Jimmy Savile. Mehr als 300 Frauen und einige Männer haben Anschuldigungen gegen den "rücksichtslosen Sexualverbrecher" (Scotland Yard) zu Protokoll gegeben. Dabei geht es um Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch ebenso wie um konsensualen Sex mit Minderjährigen. Ob Savile Mittäter hatte, womöglich von seinem Arbeitgeber gedeckt wurde, wird noch ermittelt.

Die an Hysterie grenzende Entrüstung der Öffentlichkeit gegen Savile wandte sich auch deshalb gegen die BBC, weil der Vorwurf der Nachrichtenunterdrückung im Raum stand. Das TV-Magazin Newsnight hatte einen kritischen Bericht über Saviles Sexualleben vergangenen Winter nicht ausgestrahlt. Vorvergangene Woche preschte das Magazin mit einem Bericht vor, die sich auf Verbrechen in einem Kinderheim im walisischen Wrexham zwischen 1974 und 1990 beziehen. Eines der Opfer, Steve Messham, beschuldigte vor der Kamera einen früheren hochrangigen Tory-Politiker der Vergewaltigung. Zwar wurde der heute 70-Jährige nicht identifiziert, sein Name kursierte aber bald im Internet.

Erst als der Ex-Politiker selbst die Öffentlichkeit suchte, wurde klar: Die Newsnight-Journalisten hatten dem Vergewaltigungsopfer nicht einmal ein Foto des Mannes gezeigt, um die Richtigkeit der Angaben zu überprüfen. Sowohl Messham als auch die BBC entschuldigten sich für ihren Fehler, dem offenbar eine Namensverwechslung zugrunde liegt.

Verletzte Aufsichtspflicht

Generaldirektor Entwistle hatte sich rund um die Savile-Vorwürfe vom Unterhaus "bedauerlichen Mangel an Neugierde" vorwerfen lassen müssen. Das zweite Beispiel von "schäbigem Journalismus" (Patten) wurde ihm nun zum Verhängnis, weil sich herausstellte: Weder Entwistle selbst noch seine engsten Berater waren vorab über den Newsnight-Beitrag informiert, hatten das TV-Stück auch nicht gesehen. Die verheerende Verletzung der Aufsichtspflicht musste der oberste Journalist der BBC ausgerechnet im eigenen Radio-Magazin Today einräumen - ein für den Chef verhängnisvoller Beweis für die robuste Interview-Technik vieler BBC-Stars.

Insider verweisen darauf, dass unter Entwistles Vorgänger Mark Thompson viele BBC-Redaktionen verkleinert wurden, der Verwaltung des Senders aber immer neue Stellen zugeschlagen wurden. Das frühere konservative Kabinettsmitglied Patten will nun "Zuversicht und Vertrauen" wiederherstellen und binnen weniger Wochen einen Nachfolger für Entwistle bestellen. (Sebastian Borger aus London, DER STANDARD, 12.11.2012)