Marjorie zeigte uns Saint-Gilles mit Kunstakademie und boboeskem Lebensgefühl Brüsselerer Spielart, mit jeder Menge kleiner Shops, Tee- und Kaffeehäusern, Buchhandlungen und Lokalen.

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Wenn man sich ein paar Straßen von der Grand-Place entfernt, kann man unter Umständen in einem grauen, unwirtlichen Viertel landen, und man kennt sich nicht mehr aus.

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In Brüssel scheint man der Meinung zu sein, dass es kaum bessere "Botschafter" geben kann als Besucher, die eine Stadt durch Greeters kennengelernt haben

Musikinstrumentenmuseum "Old England"

Die Verheißung einer "extrem subjektiven und unglaublich authentischen" Führung: Das wollten wir uns anschauen und vertrauten uns unlängst in Brüssel der Greeterin Marjorie an. Die 27-jährige Kunsthistorikerin, die halbtags arbeitet, reist viel, führt darüber einen Blog und lernt gerne Leute kennen.

Für Greetings biete sich Brüssel besonders gut an, meinte Marjorie, denn: "Mit 1,15 Millionen Einwohnern ist die Stadt relativ klein, aber sehr kontrastreich - für Touristen ist das schwierig zu erkennen. Wenn man sich ein paar Straßen von der Grand-Place entfernt, kann man unter Umständen in einem grauen, unwirtlichen Viertel landen, und man kennt sich nicht mehr aus. Da können Leute wie wir schon nützlich sein!"

Boheme Brüsseler Art

Marjorie zeigte uns Saint-Gilles, eine an die Innenstadt anschließende, "coole" Nachbarschaft mit Kunstakademie und boboeskem Lebensgefühl Brüsselerer Spielart, mit jeder Menge kleiner Shops, Tee- und Kaffeehäusern, Buchhandlungen und Lokalen. Im bohemienhaften Supra Bailly im Shopping-Distrikt Rue du Bailli sitzen etwa teils studentisch-poststudentische, teils sozialbedürftige Gäste, die alle von einem Bier um einen Euro fünfzig angelockt wurden.

Kennengelernt haben wir auf diese Weise auch den Kunstbuchladen Peinture Fraîche, das poppige Restaurant Pudding Rock in der Rue du Mail und das "girliemäßige" - wie Marjorie sich ausdrückte - Lilycup für Tee, Kaffee und Kuchen sowie das Restaurant Quincaillerie, ein früheres Eisenwarengeschäft. Beide befinden sich in der Rue du Page. Und es ist tatsächlich höchst fraglich, ob wir Saint-Gilles ohne Marjorie entdeckt hätten, denn abgesehen vom Horta-Museum in der Rue Américaine, dem einstigen Wohnhaus des prägenden Jugendstilarchitekten, hat es keine touristischen Anziehungspunkte.

Tags darauf dann noch eine Führung mit Francis: Der frühere Immobilienmakler, der vor einem Jahr in Pension ging, will jetzt, wie er sagte, "mit Menschen zu tun haben - aber nicht mehr auf geschäftlicher Basis. Ich will Ihnen 'mein Brüssel' zeigen, das Brüssel, das ich liebe und in dem ich mich auskenne." Francis führte uns durch das urwüchsige Quartier Marolles, dessen Bewohner - Arbeiter, Handwerker, Kleinbürger und mittlerweile auch Zuwanderer aus aller Welt - immer schon, und das heißt in diesem Fall seit dem Mittelalter, als frech und wenig obrigkeitstreu galten. Damit sie wüssten, wohin sie ihre Renitenz bringen würde, knallte ihnen König Leopold II. den monströsen Justizpalast vor die Nase, ein an mehrere übereinandergestapelte indische Tempel erinnerndes Gebäude, das größte des 19. Jahrhunderts. Eine Orgie von Kuppeln, Säulen und Pilastern, dazwischen endlose fahl beleuchtete und natürlich menschenleere Couloirs.

Zum Abschluss ging's ins Café Le Cirio in der Rue de la Bourse, in der einer von Francis' Freunden schon seit vierzig Jahren kellnert: Großes Wiedersehen, eine Runde Half and Half (halb Weißwein, halb Sekt), blattvoll angefüllt. Aufs Haus!

Uraltes Prinzip in der Fremde

Greeters: Die Sache selbst gibt es de facto seit Ewigkeiten, wenn auch nicht unter diesem Namen. Wenn man eine fremde Stadt besucht, in der man Freunde hat, werden diese sicher freundlicherweise Guide spielen, sprich: einen herumführen und einem "ihre Stadt" näherbringen. Die selbstverständlichste nichtinstitutionalisierte Sache der Welt.

Nur, was macht man, wenn man niemanden kennt? Man überantwortet sich dem lokalen Tourismusamt, nimmt an Führungen jeglicher Art teil und hört sich dabei allerlei historische, kulturelle und sonst welche Fakten an. Ist ja auch völlig in Ordnung - aber unter Umständen doch wenig persönlich und subjektiv. Für jene, die in einer fremden Stadt aber Einheimische kennenlernen und die Stadt durch deren Augen erkunden wollen - und das oftmals unter Außerachtlassung der gängigen Sehenswürdigkeiten -, für genau die gibt es die Alternative der Greeters.

"Als Besucher fremder Städte kommt man mit deren Bewohnern normalerweise überhaupt nicht in Berührung. Mit den Greeters geht das ganz natürlich, und man erlebt eine Stadt gerade so, als würde man selbst darin leben", meint etwa die Brüsseler Greeterin Marina. Logistisch geht das so vonstatten, dass man noch vor der Anreise mit der lokalen Greeters-Organisation abklärt, was man sehen möchte. Diese findet dann einen Greeter, eine Greeterin, der oder die sich gerade damit auskennt. Die Spielregeln: Die ausschließlich von Freiwilligen geleiteten Führungen sind grundsätzlich kostenlos. Und um das Ganze, wie gesagt, schön persönlich und subjektiv zu halten, sind die Gruppen auf maximal sechs Personen begrenzt.

Vergleichbar mit "Couchsurfing"

Es ist eine ähnliche Einrichtung wie das "Couchsurfing", das zeitweilige Mitwohnen bei Gastgebern im Ausland, das ebenfalls über Internet-Plattformen vermittelt wird. Nur dass Couchsurfing tendenziell von jüngeren Leuten angeboten und in Anspruch genommen wird, während ein guter Teil der Greeters Pensionisten sind. Viele sind aber auch noch im Erwerbsleben, Marina beispielsweise, die wochentags unterrichtet und an vielen Wochenenden ihre Kleingruppen durch Brüssel führt. Wie sie das schafft ? "Ich liebe es, meine Stadt herzuzeigen! Für mich ist das ein Vergnügen, keine Arbeit. Und manchmal werden Freundschaften daraus." Ihr Greeter-Kollege Yves nimmt sich sogar gelegentlich frei, um ein, zwei Stunden lang mit letztlich wildfremden Leuten durch die Stadt zu stapfen. Ja, gibt es denn so viele gute Menschen? In Brüssel sind es immerhin schon 90.

Und hier in Brüssel fand auch Anfang Oktober auf Einladung der Stadt ein Kongress des Global Greeter Network statt. Denn was vor 20 Jahren als Big Apple Greeter, eine lose Non- Profit-Gruppe von Freiwilligen in New York, begann, hat sich in der Zwischenzeit zu einem weltweit an 35 Orten aktiven Netzwerk ausgewachsen. 22 nationale Greeter-Organisationen waren angereist, hielten Workshops ab, lauschten Vorträgen und waren hochoffiziell zu einem Cocktail-Empfang im gotischen Rathaus im Beisein zweier Staatssekretäre geladen.

Die "echte, authentische" Stadt herzeigen

Ein unverhoffter globaler Erfolg für Lynn Brooks, die Gründerin von Big Apple Greeter, an dessen Anfang bloß eine vage Idee stand: "Ich gab damals einen Job auf, der mir nicht mehr gefiel, die Kinder waren aus dem Haus, ich wollte etwas tun. Und da hatte ich die Idee, die Besucher aus aller Welt mit New Yorkern zusammenzubringen, die ihnen 'ihre echte, authentische Stadt' zeigen sollten. New York hatte damals den Ruf eines gefährlichen und schmutzigen Pflasters, von den bezaubernden kleinen 'neighborhoods', die es schließlich auch gab, wussten die Besucher nichts. Die Gegend in Manhattan, in der ich lebte, war voller Yuppies - die oft wohltätige Dinge tun - und zeitlich flexiblen Freiberuflern. Ich gab also eine kleine Annonce mit der Anfrage nach Freiwilligen auf, und stellen Sie sich vor, innerhalb zweier Tage hatte ich 400 Anrufer!"

Big Apple Greeter war rasch etabliert und ist bis heute erfolgreich, obwohl die Stadt, die auch ohne Greeters locker Millionen Besucher hat, keinerlei Schützenhilfe bekam. Da Brooks nie auf Gewinn aus war und ihre Idee nicht eifersüchtig hütete, breitete sich diese rasch in der Welt aus: zuerst Chicago, dann Buenos Aires, Melbourne, Frankreich - überall entstanden lokale Greeters-Organisationen.

Nicht alle wollen Freiwillige

Von den offiziellen Tourismusstellen werden die Freiwilligen mal besser, mal schlechter aufgenommen. In Paris etwa, stellt Claude d'Aura, die zum Kongress angereiste Leiterin der Pariser Organisation Parisien d'un jour, bedauernd fest, will man mit den Greeters ebenso wenig zu tun haben wie in New York.

In Brüssel ist das anders, da stehen die Tourismusbüros - genauer: jene von Flandern-Brüssel, von Wallonien-Brüssel und von der Stadt Brüssel selbst, man ist schließlich ein Zweivölkerstaat - voll hinter der Initiative Brussels Greeters. Mittlerweile werden diese sogar in die "planmäßig-touristischen" Aktivitäten eingebettet. Hier scheint man offensichtlich der Meinung zu sein, dass es kaum bessere "Botschafter" geben kann als Besucher, die eine Stadt durch Greeters kennengelernt haben, obwohl - oder vielleicht gerade weil - die Organsiation vielmehr den partizipativen und weniger den passiven, konsumorientierten Tourismus fördert. (Harald Sager, Album, DER STANDARD, 10.11.2012)