Henry legt es darauf an, durch das Verschlingen größerer Büchermengen zum schlauesten Menschen der Welt zu werden, und das kann wirklich nicht gutgehen. Illustration aus: "Der unglaubliche kleine Bücherfresser", Aufbau-Verlag.

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Ich tue das, von dem wir uns einig sind, dass es hier und heute das Wichtigste ist, ich erzähle eine Geschichte. Sie ist zugleich die Geschichte des Beginnes meiner gelegentlichen Befassung mit dem Kapitel Hochbegabung, aber das ist heute nicht unser Thema.

Die Geschichte spielt vor wenigen Jahren und handelt von Frau F., einer alleinversorgenden Mutter, die zu mir kam, weil sie Schwierigkeiten mit ihrer zwölfjährigen Tochter hatte. Das Mädchen war bockig, unzugänglich, teilweise unvermittelt ängstlich und legte diverse zwanghaft anmutende Verhaltensweisen an den Tag. Nach kurzer Befragung war klar, dass der Vater seit einem Jahr nicht mehr in der Familie lebte und die heftigen Konflikte, die zur Trennung geführt hatten, bei weitem nicht aufgearbeitet waren. Das Mädchen wurde, da es sich eine Frau als Psychotherapeutin wünschte, zu einer Kollegin überwiesen; die Mutter kam zur weiteren Beratung zu mir.

Überraschend für mich war, dass sie schon in der ersten Stunde mit Laura auftauchte, der zweidreiviertel Jahre alten kleinen Schwester des genannten Mädchens. Laura blieb vorerst im Buggy angeschnallt, auch als sie und ihre Mutter sich längst im Therapiezimmer befanden, das fiel mir auf. Auf meinem Tisch lagen einige Theaterprospekte, die ich zuletzt durchgeschaut hatte. Frau F. und ich sprachen über ihre Schwierigkeiten mit der Großen und ein wenig über Frau F.s eigene Mutter, die offenbar alles andere als einfühlsam gewesen war.

Plötzlich sagte Laura, die jener bunten Prospekte ansichtig geworden war, laut und deutlich: "Volksoper". Ich war irritiert, glaubte zuerst eine Äußerung der Mutter überhört zu haben und ließ mich schließlich darüber aufklären, dass Laura vor einigen Wochen begonnen hatte zu lesen. Ich war zugegebenermaßen hingerissen, ließ mir das Wort "Theaterland" vorlesen, war fast ein wenig froh, dass "Niederösterreich" dem Mädchen gewisse Schwierigkeiten machte, und hörte, wie Frau F. sagte: "Wir üben eh regelmäßig." Da war ich weder hingerissen noch froh. Ich fragte vorsichtig nach, doch Frau F. hatte mein Erschrecken bemerkt und bemühte sich zu erklären, dass das nicht so gemeint sei und von Üben im herkömmlichen Sinn könne keine Rede sein.

Wir sprachen über diverse andere Dinge, über die trotz des großen Altersunterschiedes gute Beziehung der Schwestern zueinander, über das Verhältnis der beiden Mädchen zum Vater und über Freud und Leid des Alleinerziehens. Laura vollführte inzwischen allerhand Verwindungen in ihrem Wagen, um die Dinge in meinem Spielzeugregal begutachten zu können. Schließlich zeigte sie mit ihrem Finger mitten hinein und sagte: "Ich will die Puppe haben." Die Mutter schaute hin, schaute auf ihre Tochter und sagte: "Das ist eine Baby-Puppe." Dann sprach sie wieder mit mir.

Laura schlängelte sich weiter in ihrer festgezurrten Position, drückte schließlich so lange auf die Schnalle ihres Gurtes, bis dieselbe aufsprang. Mit einem seligen Ausdruck im Gesicht kletterte sie aus dem Wagen, trat vors Regal - um festzustellen, dass die Puppe trotz heftigen Auf-die-Zehen-Stellens ihrerseits außerhalb ihrer Reichweite saß. Laura wandte sich an ihre Mutter: "Darf ich bitte die Puppe haben?!" Frau F. zog die Stirne kraus. Daraufhin Laura: "Darf ich bitte die Baby-Puppe haben?" Die Mutter zu mir: "Ich weiß schon, Sie stellen sich vor, ich drille meine Kinder, aber so ist es nicht." Ich holte die Baby-Puppe samt dem Korb mit den dazugehörigen Utensilien aus dem Regal und drückte sie Laura in die Hand. Die Mutter: "Ich lese mit ihr nur, wenn sie freiwillig mitmacht. Manchmal lese ich ihr auch vor und halte ihr zwischendurch einfach das Buch hin." Laura zeigte die Puppe freudestrahlend der Mutter, welche sie kurz in die Hand nahm, anschaute und kommentarlos wieder zurückgab.

Das Mädchen nahm daraufhin das Fläschchen aus dem Korb, platzierte den Sauger behutsam auf den Lippen der Baby-Puppe und begann sie zu füttern, hingebungsvoll wie es nur zweidreivierteljährige Mädchen können. Dazu sagte sie mehrmals einen kurzen Satz: "Wir essen."

Wir essen. Mir schien, Laura war in diesem Moment in erster Linie eine ein wenig traurige alleinversorgende Puppenmutter, die den eigenen Mangel an emotionalem Containment in berührender Weise szenisch darstellte, mit Essen, anscheinend ganz ohne Lesen.

Was will ich mit dieser Geschichte nicht? Ich will keine Lanze für die spezifische Frühförderung von Frühlesern brechen. Ich will nicht in den Klagechoral über die Verantwortungslosigkeit abwesender Väter einstimmen. Vor allem will ich nicht alleinerziehenden Müttern nach schwierigen Trennungen verordnen, sich in völlig entspannter und frei schwingender Emotionalität den Kindern, die (klarerweise) bei ihnen verblieben sind, zuzuwenden.

Lauras Mutter verhielt sich so, wie es Mütter in derartigen Situationen oft tun, nämlich partiell dissoziiert, also erstarrt und innerlich zum Teil abgeschnitten von ihren Gefühlen, von ihrer Zuneigung und von ihrer Fähigkeit, sich in andere, in unserem Fall in ihre Tochter und ihre Bedürfnisse, einzufühlen. So etwas lässt sich übrigens beheben.

Laura selbst zeigt uns in einer zur Szene kondensierten Form, worum es in der kindlichen Entwicklung im Allgemeinen geht: darum, sich verständlich zu machen, um Freiheit und um das Spiel; speziell führt sie uns drei Dinge vor Augen, die im Zusammenhang mit Kinderliteratur nicht ganz ohne Relevanz sind, denke ich.

Erstens: Sprache braucht den Affekt. Oder, um es noch ein wenig psychoanalytischer auszudrücken: Sprache braucht die libidinöse Besetzung. Sprache ist etwas, das in den Armen der Mutter beginnt, imitativ, so wie wir alle es kennen, Vokale und Konsonanten in repetitiver Abfolge. Dass sich aus der Lust an der eigenen stimmlichen Hervorbringung, aus der Fähigkeit, primär Vokale und Labiallaute zu bilden, und aus der Tendenz zum alliterativen Stereotyp relativ zwanglos "Mamamama" und "Babababa" als bei weitem häufigste erste sogenannte Worte ergeben, ist nicht schwer zu verstehen, dass "Mumu" als "Mama" und "Bebe" als "Papa" umgedeutet werden, auch nicht. Die Neigung der Mütter, ihren Kindern - ausschließlich unbewusst, versteht sich - eher "Mama" als "Papa" zu suggerieren, gewährt man gerne.

Haben sie die Mühe mit Flasche und Windel - sollen sie sich auch ein wenig freuen dürfen. Und wenn schließlich ein Vater aus dem Mund des Sprösslings "Auto" zu vernehmen meint, es augenblicklich zum garantiert ersten Wort macht, das der Sohn von sich gegeben habe, und dabei die Einwände seiner Frau: "Du, bitte, vor zwei Monaten war ,Mama', danach gleich 'Papa', dann 'Opa', dann 'Dada' für die Katze" völlig ignoriert, regen wir uns auch nicht auf. All diesen Worten ist jedenfalls eins gemeinsam: Sie benennen Personen, Dinge, Lebewesen, die neben der faktischen eine emotionale Bedeutung besitzen.

Die Mutter, den Vater, die Katze gleichzusetzen mit Emotion - das versteht man leicht. Das Auto, das verstehen zumindest die Väter. Zwischen dem Wort auf der einen und der Person, dem Ding, dem Lebewesen auf der anderen Seite liegt somit ein Bündel an Affekten - Zuneigung, Zärtlichkeit, Angst - und Benennlust, das in Wahrheit erst erzeugt, was wir als brave Semiotiker gewohnt sind, Begriff zu nennen. Die Notwendigkeit der affektiven Hinterlegung, der libidinösen Besetzung, gilt sowohl für die gesprochene wie für die gelesene Sprache.

Daher erscheint mir auch die Behauptung meiner Mutter, das erste Wort, das ich lesen hätte können, sei "Fleischerei" gewesen und ich hätte es beim Einkaufengehen mit ihr gelernt, nicht hundertprozentig unplausibel. Woran ich mich nämlich erinnern kann, sind die Extrawurstblätter, die Frau Weiß, die rundliche Fleischhauerin, uns Kindern auf einer kleinen Gabel regelmäßig angeboten hat. Der zu erwartende Extrawurst-Genuss als jener positive Affekt, der die libidinöse Besetzung des Wortes "Fleischerei" in ausreichendem Maß ermöglichte - und schon habe ich es gelesen. Ein wenig trivial, dieses Beispiel, zugegeben, aber Trivialität leuchtet ein.

Laura hatte keine Extrawurst zur Verfügung, als sie damals flüssig "Volksoper" las und mit ein wenig Mühe "Theaterland Niederösterreich". Sie tat es, weil sie es konnte, vielleicht, weil sie spürte, dass die Mutter es wollte, nicht, weil es ihr ein Anliegen war. Lauras Lesen damals in meinem Zimmer war im Wesentlichen frei von Affekt, libidinös unbesetzt, also in Wahrheit ohne echte Bedeutung. Affektive Wichtigkeit hatte ihr Wunsch, den Wagen zu verlassen und ans Regal zu gelangen; libidinös besetzt waren Baby-Puppe und Flasche; Laura wollte spielen und Laura wollte füttern.

Dass Kinder, die aufgrund einer zeitgerecht geförderten Teilleistungsstärke früh lesen können, nicht in erster Linie ständig lesen wollen, scheint sich inzwischen herumgesprochen zu haben, weniger zum Beispiel die Sinnhaftigkeit der Frage, wie man Migrantenkindern, denen nahegelegt wird, möglichst rasch unsere Sprache zu lernen, einen plausibleren Affekt dazu liefert als die Angst davor, nicht dazuzugehören oder gar rausgeschmissen zu werden, wenn sie Probleme damit haben. Das hat mit libidinöser Besetzung nichts zu tun.

Agnes de Lestrade, Schweizer Autorin, erzählt in ihrem von der Argentinierin Valeria Docampo eindrucksvoll illustrierten Kinderbuch Die große Wörterfabrik von einer Welt, in der der Erwerb von Sprache primär völlig frei von Gefühlen abläuft. Die Wörter kommen aus der Fabrik, und man muss sie kaufen, um sie aussprechen zu können. Es gibt Wörter, die sind wertvoller als andere. Man sagt sie nicht so oft. Eigentlich nur, wenn man sehr reich ist. Denn in dem Land der großen Wörterfabrik ist sprechen teuer.

Wer viel Geld hat, kann sich die Worte, die er sagen möchte, leisten, ganze Sätze oder gar Liebeserklärungen. Wer keins hat, wühlt in der Mülltonne und findet bestenfalls Worte wie "Hundekacke" oder "Hasenpipi". Traurig.

Wörterfabrik. Da kann jemandem wie mir, der trotz der kontinuierlichen Herzerfrischung durch die Auseinandersetzung mit Kindern manchmal zu bös-pessimistischen Assoziaten neigt, doch glatt Niklas Luhmann mit seinen Gedanken zur Erziehung einfallen. Luhmann sieht das System unserer Erziehung vor allem als einen Apparat, dessen Bestimmung es ist, unter Anwendung eines binären Codes: bestanden, durchgefallen aus Kindern Trivialmaschinen zu erzeugen. Trivialmaschinen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf einen bestimmten Input dank einer gespeicherten Regel einen bestimmten Output produzieren. Auf eine Frage geben sie, wenn richtig programmiert, die richtige Antwort. (...)

Trivialmaschinen lassen sich leicht beobachten und beurteilen, man braucht nur festzustellen, ob die Transformation von Input zu Output richtig funktioniert. Man kann außerdem, ohne den Typus der Maschine zu ändern, die Erwartung an das Programm steigern und den Unterricht mit diesem Ziel sequenziell unter höhere Ansprüche stellen.

Kindliche Trivialmaschinen im Luhmann'schen Sinn mucken nicht auf, reden nicht zurück und haben nur die richtigen Idee. Sie geben Antwort, wenn es von ihnen erwartet wird, stellen keine Fragen, auf die man die Antwort nicht kennt, und am Abend liegen sie grad im Bett, Köpfe auf den Pölstern, Hände auf der Decke. Brav.

Im linguistischen Sinn geben kindliche Trivialmaschinen mit Sicherheit immer jene Sprachgebilde von sich, die man von ihnen erwartet, ganz ihrer Kompetenz entsprechend, ohne unnötigen Affekt. Kindliche Trivialmaschinen im Luhmann'schen Sinn haben mit meiner Extrawurst-Trivialität nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Libidinöse Besetzung, wo kämen wir da hin?! Libidinös, das klingt doch nicht im mindesten nach Kompetenz, sondern nach Lust und Leidenschaft, vielleicht sogar nach Sex, und wir sprechen hier doch von Sprache, oder?

Glücklicherweise habe ich hier von Kinderliteratur zu sprechen, und die ist nie frei von Lust und Leidenschaft, schon gar nicht frei von Sex, metaphorisch sowieso nicht, gelegentlich auch nicht konkret. Agnes de Lestrades Buch - es wird für Vierjährige empfohlen - endet immerhin mit einem Kuss. Davor kämpft der kleine Held der Geschichte (dafür, dass er Paul heißt, kann ich wirklich nichts) mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, gegen das seelenlose Diktat der kapitalistischen Wörterproduktionsindustrie. Wie es sich für kleine Helden gehört, haben diese Mittel mit Leidenschaft zu tun, und wie es sich für kleine Helden in Büchern gehört, sind es Mittel der Poesie. Mit seinem Schmetterlingsnetz fängt er drei Wor- te: Kirsche, Staub, Stuhl. Er schenkt sie Marie, der sein Herz gehört, und es ist völlig klar, dass sie mehr wert sind als jeder ausformulierte Heiratsantrag.

Zurück zur Szene mit Laura. Sie weist uns also, erstens, darauf hin, dass Sprache Affekt und libidinöse Besetzung braucht. Zweitens führt sie uns metaphorisch vor Augen, dass es im Leben ums Füttern geht. Physisch, also alimentär ist der Mensch ein Säugetier und die Sache klar: Ohne die Zufuhr von Nahrung läuft nichts. Entwicklungspsychologisch wissen wir spätestens seit den berühmten Säuglingsbeobachtungsstudien von Rene Spitz in der Mitte des letzten Jahrhunderts, dass kleine Kinder, denen eine kontinuierliche emotionale Zuwendung vorenthalten wird, ohne gröbere psychische Beeinträchtigung nicht überleben können. Ebenso ist klar, dass eine extreme sprachliche Deprivation in der frühen Kindheit, wie man sie aus den Beschreibungen sogenannter Wolfskinder kennt, für den weiteren Spracherwerb nicht ohne Folgen bleibt. Wie es sich mit den Auswirkungen unterschiedlicher Zufuhr von Erzählung auf die Entwicklung von Kindern verhält, konnte ich in empirisch einigermaßen stichhaltiger Qualität nicht erheben. Dass schon sehr kleine Kinder erzählungsähnliche Strukturen - Spannungsaufbau, Höhepunkt, Abfall - anderen Kommunikationsmustern vorziehen, ist seit den Beobachtungen des amerikanischen Entwicklungsforschers Daniel Stern jedenfalls bekannt. Daraus abzuleiten, dass sich Kinder, denen viel erzählt wird, Kinder, die genug zu lesen bekommen, also Kinder in einer Verfassung ausreichender narrativer Fütterung, besser entwickeln als Kinder, die erzählerisch kurzgehalten werden, ist in erster Linie eine charmante Vorstellung für narrationsaffine und bibliophile Menschen, wie wir es sind.

Apropos narrative Fütterung. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag vor eineinhalb Jahren hat mir meine Freundin Ilse Oliver Jeffers' Bilderbuch Der unglaubliche kleine Bücherfresser geschenkt. Das fand ich aus mehreren Gründen sehr nett. Erstens ist es für Kinder ab drei, und daher war die implizite Botschaft: "Sei nicht traurig, du bist eh noch ziemlich jung" gut verständlich. Zweitens habe ich das Buch in der Pop-up-Version bekommen; das heißt, man blättert um, und schon tut sich was: Ein gedeckter Tisch springt aus dem Buch oder eine ganze Bibliothek, oder man hat an einem Rädchen zu drehen und sieht Gedanken durch ein Gehirn purzeln oder Bücher im Bauch herumkollern.

Ich bin in einer Lehrerfamilie groß geworden, in der, wie Sie sich vorstellen können, Pop-up-Bücher beinahe so verpönt waren wie Mickey-Mouse- oder Perry-Rhodan-Hefte; daher war Ilses Geschenk so etwas wie die (etwas späte) Kompensation eines lang dauernden kindlichen Mangels, somit geradezu ein kleiner therapeutischer Akt.

Henry, ein Bub, kommt eines Tages drauf, dass er gerne Bücher isst, Romane, Lexika, Atlanten, Witzbücher, Sachbücher, sogar Mathe-Bücher. Aber rote Bücher mochte er am liebsten. Zu meiner großen Freude verzehrt Henry an dieser Stelle übrigens Jagd auf Roter Oktober, aber das merkt man nur, wenn man ganz genau hinschaut. Ich muss mir dann immer vorstellen, wie Henry genau so atemlos ist wie ich, als Captain Ramius mit seinem U-Boot das Manöver "irrer Iwan" macht, wie Henry genau so traurig ist wie ich, als sein Freund Borodin, der Erste Offizier, bevor er stirbt, den Satz sagt: "Ich hätte so gern Montana gesehen", und wie Henry am Ende genauso zufrieden ist wie ich, als Ramius mit der Roten Oktober heil in Maine landet. Exkurs Ende.

Henry merkt, wie ihn Bücherverzehr schlau macht: Er aß ein Buch über Goldfische, und dann wusste er, welches Futter Ginger, sein Goldfisch, brauchte. Schon bald konnte er die Kreuzworträtsel seines Vaters lösen und war sogar schlauer als die Lehrerin in der Schule. An dieser Stelle kriegt man übrigens erstmals ein ungutes Gefühl, nicht nur als Lehrerkind. Schlauer als die Lehrerin?

Henry legt es in der Folge darauf an, durch das Verschlingen immer größerer Büchermengen zum schlauesten Menschen der Welt zu werden, und das kann wirklich nicht gutgehen. Erst wird die Sache medizinisch - Henry wird schlecht -, dann psychiatrisch - es kommen ihm alle seine klugen Gedanken durcheinander (zwei plus drei ist Elefant, denkt er), und am Ende produziert er nur noch sinnlosen Wortsalat. Alles, was zu befürchten ist, passiert: Es wird ihm, erstens, der Verzicht aufs Bücherfressen nahegelegt, und, zweitens, er hält sich daran. Da so ein Buch ein Happy End braucht, schlägt Henry am Schluss - er sitzt noch auf dem Krankenbett - eins seiner halb gegessenen Bücher auf, beginnt zu lesen und merkt, dass er es mag, das Lesen.

An dieser Stelle merke ich, wie ich aussteige und mich zurückbegebe in die Zeit, in der ich selbst allwöchentlich aus der Stadtbibliothek Amstetten nach Hause kam, mit voller Schultasche und dem Bestreben, dem seltsamen Blick meiner Mutter, der eine leicht unausgewogene Kombination aus missbilligend und bewundernd war, auszuweichen. "Du liest die Bücher ja nicht, du frisst sie", sagte sie, oder auch zu anderen: "Der liest keine Bücher, der frisst sie." Ich weiß, dass ich eine Weile Widerstand geleistet und weiter gefressen habe, darauf bin ich ein wenig stolz. Ich merke andererseits jetzt, wie ich mir für Henry einen anderen, einen weniger pädagogisch korrekten, weniger braven Schluss wünschen würde, weil ich mir damals für mich selbst einen anderen Schluss gewünscht hätte: nämlich die uneingeschränkte Erlaubnis, weiter Bücher zu fressen, ohne Missbilligung und ohne pädagogische oder zivilisatorische Zügel.

Gibt es etwas wie narrative Überfütterung? Sosehr ich die einschlägige Literatur auch durchforstet habe - es existieren weder Hinweise auf die Gefahr einer echten Sucht noch auf die des Überfressens oder irgendeiner Form von Übergewicht, ja, in Wahrheit nicht einmal auf die Möglichkeit einer dauerhafte Sättigung. Ein gewisses Quantum Erzählung, ein gewisses Quantum Lektüre verträgt man ganz gut, auch über lange Zeit hinweg, und leichte Abhängigkeitsphänomene nimmt man ja auch in anderen Bereichen des Lebens in Kauf.

Laura, zum dritten Mal. Nachdem sie ein abgehobenes, affektiv nicht eingebettetes sprachliches Gebilde - "Volksoper, Theaterland, Niederösterreich" - von sich gegeben hat, löst sie sich aus dem Buggy und von der teilerstarrten Mutter, gibt der Baby-Puppe das Fläschchen und sagt: "Wir essen." Sichtlich voller Emotion wendet sie sich der Puppe, ihrem fantasierten Kind, zu, füttert es metaphorisch auf zumindest zwei Ebenen, mit Milch, die sie herbeiimaginiert, und mit der winzigen suggestiven Geschichte ("Wir essen"). Sie setzt damit jene Dinge in Szene, um die es, wie wir gehört haben, geht, wenn es um Sprache und Erzählung: libidinöse Besetzung und narrative Fütterung geht, und formt mit all dem anderen, das sie sich für sich, das Kind und die Mutter noch vorstellen mag, ein Gebilde, das ich ein poetisches Nest nennen möchte.

Ein Nest ist ein Ort, der Wohlbefinden gewährleistet und Sicherheit, auch und vor allem, wenn die Alten ausgeflogen sind. Ein Nest verknüpft ein angenehmes Gefühl nach innen mit Stabilität nach außen. Ein Vogel- oder Eichhörnchennest tut dies mit vegetationsarchitektonischen Mitteln, ein Nest aus poetologischer Sicht mit den Mitteln von Sprache, Imagination und Erzählung. Jedes poetische Nest hat seine Gewichtung, das eine mehr in der semantischen, das andere mehr in der metaphorischen, das dritte mehr in der narrativen Ecke.

Neben den Erzählungen meines Vaters und meines Onkels Rudi, die wie die meisten oral tradierten Geschichten in erster Linie von den klassisch narrativen Elementen lebten, vom Erzähltempo, von der Personen- und Schauplatzschilderung, vom Spannungsaufbau und von den Kulminationen, waren, wie jenen unter Ihnen, die mein Buch Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe gelesen haben, die Petzi-Bücher die ersten zentralen poetologischen Zufluchts- und Heimstätten meiner eigenen Kindheit.

Was ich noch genau weiß, ist der allererste Satz, den ich lesen konnte: Am Weg saß ein Schweinchen und weinte. Es ist der Beginn des Pixi-Buches Petzi hat keine Angst. Dass der Satz mit dem Schweinchen rein intertextuell mit der Fleischerei-Behauptung meiner Mutter irgendetwas zu tun haben könnte, streite ich einfach ab. Am Weg saß ein Schweinchen und weinte. Petzi und seine Freunde hörten es und liefen schnell zu ihm. Schon der zweite Satz ist Beruhigung, Gott sei Dank. Zugleich wird eine Geschichte eröffnet. Sie ist auch die Geschichte meines Lesenlernens. Lesenlernen war bei mir verknüpft mit Petzi-Büchern, und Petzi-Bücher waren verknüpft mit Angina. Einmal dicker Hals, Fieber, Bettliegen - ein Petzi-Buch, so einfach ging das. Immer öfter hatte ich Angina, bis meinen Eltern schließlich die Geduld riss und sie mir die Mandeln rausschneiden ließen.

Im Spital hatte ich alle meine Petzi-Bücher dabei, das weiß ich noch, und baute mir aus ihren wunderbaren Sätzen ein semantisches Nest. Petzi und seine Freunde Pelle, Pingo und Seebär waren somit auch sprachlich bei mir. Am Weg saß ein Schweinchen und weinte. Oder: Das gute, alte Schiffchen Mary schaukelte gemächlich auf den Wellen. "Es ist herrlich, wieder auf See zu sein. Wir waren schon viel zu lange an Land!" - der Beginn von Petzi besucht seinen Großvater.

Oder jene Szene aus Petzi baut einen Schlitten, in der Seebär seinen Schaukelstuhl zu einem Schlitten umfunktioniert, die dann endet mit: Und schon glitt Seebär sanft bergab. Ein wunderbarer Satz: Und schon glitt Seebär sanft bergab. Die libidinöse Besetzung von Sprache scheint mithilfe dieser Sätze jedenfalls gut funktioniert zu haben, jener Vorgang lustvoll verschränkter Imagination und Bedeutungsgebung, der letztlich dazu führte, dass das gute alte Schiffchen Mary, das gemächlich auf den Wellen schaukelt, in mir auch heute noch zuverlässig ein Gefühl von Wohlbefinden hervorruft.

Die Petzi-Bücher weisen übrigens ein Merkmal auf, das hervorragend als Kriterium für die Qualität von Kinderliteratur taugt: Die Eltern kommen entweder gar nicht oder höchstens am Rand vor. Das Gelingen von Kindheit bedeutet ja hauptsächlich, die Eltern hinter sich zu lassen. Ein Kind im ersten Lesealter läuft nun üblicherweise nicht wirklich fort, lässt also die Eltern nicht buchstäblich, sondern metaphorisch hinter sich, soll heißen, es imaginiert sie sich weg. Wenn nun Lesen die libidinöse Besetzung des eigenen Imaginationsvermögens ist, helfen jene Bücher beim Gelingen von Kindheit, die die Eltern von vornherein abschaffen oder ihnen bestenfalls eine Statistenrolle zuschreiben. Ich habe jede Menge elternfreie Bücher gelesen; ich habe Nachmittage, Nächte und Sommerferien mit ihnen gefüllt. Nach Petzi habe ich mich eine Zeitlang Rittern und ihren Schwertern gewidmet, was man sowohl auf die Ritterburg im Dorf meines Vaters zurückführen kann als auch auf den entwicklungstypischen Hang eines Achtjährigen zu phallischen Sexualsymbolen. Danach habe ich mich mit Karl May, also mehr mit Schusswaffen befasst, was psychoanalytisch etwa in die gleiche Schublade gehört. Poetologisch sind beide Nester - Rittersagen, Karl May - deutlich mehr im metaphorischen Segment anzusiedeln als die Petzi-Bücher, aber diese Differenzierung ist tatsächlich vor allem akademisch.

Ein Buch, das alle Ingredienzien für ein poetisches Nest enthält, ist Per Olov Enquists Großvater und die Wölfe. Das Buch beginnt damit, dass die sechsjährige Mina im Traum von einem Krokodil in den Po gebissen wird, ihr Vater sich als verständnisloser Depp erweist und gewissermaßen zur Strafe aus der Geschichte verbannt wird - zum Thema elternfreie Bücher. In der Folge wird Minas Großvater aktiviert, ein hoch gewachsener, schicker Großvater mit weißem Haar, der (...) nicht so viel zu tun hatte, denn die meiste Zeit saß er da und schrieb, er hatte keine richtige Arbeit, sondern schrieb nur Bücher. (...) Er kannte auch prima Witze und wenn sie beim Essen saßen, erzählte er manchmal Pupsgeschichten.

Die Aufgabe, die Großvätern in erster Linie zukommt, nämlich Agenten des Unnützen, Fantastischen und Subversiven zu sein, erfüllt Minas Großvater glänzend. Er holt seine vier Enkelkinder zusammen, um mit ihnen gegen die Skepsis seiner Frau eine waghalsige Expedition zum Dreihöhlenberg zu unternehmen. Sie stoßen auf einen ermordeten Wolf, retten mithilfe der Hündin Mischa das halb verwaiste Wolfsjunge und sorgen dafür, dass es wieder zu seiner Mutter gelangt. Schließlich bricht sich der Großvater das Bein (erwartungsgemäß, ist man versucht zu sagen), es regnet und die Wolfsmörder rücken heran.

Mehr verrate ich nicht, denn Sie sollen dieses Buch lesen. Ich habe das mehrmals schon getan und bewundere immer wieder neue Winkel dieser bemerkenswerten poetischen Behausung: die schnoddrige und trotzdem klare Sprache, die wohl nicht zufällig an Astrid Lindgren erinnert; die Balance zwischen Bedrohung und Sicherheit, die vor allem in der Phase der Spannungszunahme eindrucksvoll gewahrt wird; den Einsatz von Tieren (Krokodilen, Hunden, Wölfen und Bären) als Metaphern des Affektiven, des Ungezügelten und Triebhaften im Menschen; schließlich die Begegnung mit der Idee des Anderen, des Bösen. Am Ende dürfen die Eltern der Kinder noch einmal kurz die Dummen sein, und auch sonst geht die Sache gut aus. Marcus, dem Kleinsten, glaubt man nicht recht. Er ist ja schließlich nicht viel älter als Laura aus meiner Geschichte und - libidinöse Besetzung und narrative Fütterung hin, poetisches Nest her - von ihr weiß man ja auch nicht recht, was man glauben soll. (Paulus Hochgatterer, Album, DER STANDARD, 10./11.11.2012)