Bild nicht mehr verfügbar.

Erdogan und Bahçeli auf einem Archivbild aus dem Juni.

Foto: Kayhan Ozer/AP/dapd

Der eine feiert die große geistige Wende in einem Vorort von Ankara, der andere lässt sich am selben Wochenende für eine sechste Amtszeit als Parteichef in der größten Halle der Hauptstadt wählen. Tayyip Erdogan und Devlet Bahçeli sind ein besonderes Team: politische Gegner, die doch immer wieder gemeinsame Interessen finden. Auch nach zehn Jahren an der Macht ist der türkische Regierungschef wild entschlossen, seine Herrschaft um ein weiteres Jahrzehnt fortzuschreiben. Dafür tritt er auch mit dem obskuren Führer der rechtsextremen türkischen Nationalistenbewegung MHP in die Pedale. Erdogan will eine Präsidialverfassung nach Maß und Bahçeli hätte die Stimmen im Parlament dafür. Das konservativ-religiös-nationalistische Tandem Erdogan/Bahçeli rollt, die Kurdenfrage ist ihr Spielball.

"Die nationale Gesinnung kennt keine Schwarzmalerei und keine Hoffnungslosigkeit. Diejenigen, die den Namen der Nation beschmutzen, die Sprache und die Geschichte können uns nicht verstehen", psalmodierte Bahçeli beim Parteitag seiner MHP am Sonntag, die er nun schon 15 Jahre führt; die Nichtversteher der türkischen Rechtsaußen-Seele sind dabei aus seiner Sicht zu erst einmal die Kurden im Land und dann alle, die glauben, sie müssten der 20-Prozent-Minderheit irgendwie entgegenkommen. Dabei gibt es die Kurdenfrage gar nicht, behauptet Bahçeli schlicht.

"Wahre Republikaner, die die Nation verkörpern", seien vor zehn Jahren an die Regierung gekommen, lobte sich wiederum Erdogan bei einer Partei-Jubiläumsfeier am vergangenen Samstag in Kizilcahamam bei Ankara. Der Wahlsieg der AKP am 3. November 2002 sei eine Zäsur gewesen: "Nicht nur eine neue Partei kam an die Macht. Eine geistige Revolution fand statt." Nun haben die "wahren Republikaner" auch einige Schritte zur Lösung der Kurdenfrage unternommen und zuletzt gar einen Wahlunterricht in Kurdisch mit Beginn dieses Schuljahres ermöglicht. Doch unterm Strich ist das Ergebnis enttäuschend: Statt "demokratischer Öffnung", wie 2009 die Initiative der Regierung in der Kurdenfrage hieß, gab es Massenverhaftungen gewählter kurdischer Politiker und nun den Hungerstreik von fast 700 Häftlingen. Auch die "wahre Republik" kennt keinen Föderalismus, der den Forderungen der Kurden nach Selbstverwaltung entgegenkäme. Die Ausarbeitung der neuen Verfassung, angekündigt für den April dieses Jahres, kommt in diesem Punkt natürlich nicht weiter.

Je mehr die Betriebstemperatur in der türkischen Innenpolitik wegen der Kurdenfrage und den fortgesetzten Anschlägen der PKK nun wieder steigt, um so genauer sollte man auf gemeinsame Bewegungen von Regierungspartei und nationalistischer Opposition schauen. AKP und MHP haben im vergangenen Monat im Parlament den Interventions-Freibrief für die türkische Armee in Syrien getragen, sie beraten auch über eine Vorziehung der Kommunalwahlen auf den Herbst 2013. 326 Sitze hat die AKP, 51 die MHP: Gemeinsam kann man alles stemmen. Er verliere die Hoffnung auf eine neue Verfassung, die im parlamentarischen Ausschuss aller vier Parteien entstehen soll (AKP, MHP, CHP und BDP), sagte Erdogan auch dieser Tage. Könnte heißen: Wir sehen uns nach anderen Möglichkeiten für die Verfassung um; ein Arrangement mit der MHP im Parlament, Präsidialsystem gegen verfassungsrechtlich festgeschriebenen Stillstand in der Kurdenfrage, wäre ein solcher Weg.

Der Premier ist jedenfalls in Fahrt, es war eine auch für Erdogan-Maßstäbe ziemlich gute Woche: Seinen engsten politischen Partner, Staatspräsident Abdullah Gül, hat er wie nie zuvor öffentlich in die Schranken gewiesen ("Dieses Land hat nie eine Führung mit zwei Köpfen gehabt"), beim Besuch in Berlin stellte er Angela Merkel ein Ultimatum (2023 sind wir in der EU oder ihr könnt uns vergessen), den Hungerstreik der kurdischen Häftlinge tat er als Ein-Mann-Show ab. Der Clash mit Gül hat dabei große politische Tragweite.

Es ging um den Polizeieinsatz gegen eine Demonstration von Oppositionsgruppen am Nationalfeiertag in Ankara. Gül bat den Gouverneur um Flexibilität, Erdogan war – so viel zumindest ist klar – verärgert, dass sich die Opposition überhaupt erdreistete, am 29. Oktober auf die Straße zu gehen; und wer nun die Polizei angewiesen hatte, die Demonstranten mit Tränengas zu beschießen und dann die Straßenbarrieren doch aufzuheben, wurde am Ende nicht deutlich. Doch die Folgerung, die Erdogan und seine Parteimänner aus dem Zusammenstoß mit dem Präsidenten zogen, ist atemberaubend.

Es kann keine Führung mit zwei Köpfen im Land geben, sagte Erdogan. Das heißt, wenn er 2014 im Präsidentenamt ist, wird er entweder diskret sein und den Regierungschef gewähren lassen, wie es die jetzige Verfassung vorschreibt (undenkbar); oder aber er hat eine neue Verfassung zur Hand, die ihm reichlich Macht als Staatschef gibt (sehr denkbar). Parlamentspräsident Çemil Çicek sekundierte auch sofort: Der Vorfall zeige nur, wie dringend eine Verfassungsänderung sei. Und mit einem Mal ist das wichtigste innenpolitische Projekt der Türkei, die Loslösung von der Junta-Verfasssung von 1982, kein Demokratisierungsvorhaben mehr, sondern nur die Erfüllung des Machtwunsches eines einzelnen Mannes. (Markus Bey, derStandard.at, 5.11.2012)