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Dampfablassen im Internet: Alles, was in China online geht, sei nicht zufällig, sondern ein Teil des offiziellen Plans, sagen Experten.

Foto: Reuters

Seit dem Start vor drei Jahren hat sich Chinas Twitter-Version Weibo zu einer Art Blitzableiter entwickelt. Mehr als 300 Millionen Nutzer posten hier in kurzen Zeilen ihre Meinungen zu koreanischen Seifenopern bis hin zur jüngsten politischen Intrige in China. Für Chinas kommunistische Partei sind soziale Medien wie Weibo eine große Herausforderung: Denn einerseits geht es den Volksführern um eine allumfassende enge politische und soziale Kontrolle. Andererseits haben sie den Vorteil dieser Plattformen erkannt, die den Bürgern die Möglichkeit zum Luftablassen bieten.

Keine unmündigen Kinder

Ein Spagat, der nach dem Macht- und Generationenwechsel auf dem 18. Parteitag für die neue KP-Riege um Xi Jinping noch artistischer werden dürfte. Denn sie sind mit einer starken, internetaffinen und weltweit vernetzten Mittelklasse konfrontiert, die sich nicht mehr wie kleine unmündige Kinder behandeln lässt. Anleihe nehmen können sie bei bereits erprobten Methoden.

Hochrangige Beamte in der Provinz Jiangxi lösten vor kurzem eine Flut an Onlinekritk aus, als wegen ihrer mehrstündigen Verspätung am Flughafen ein Flug nach Guangzhou nicht zur angegebenen Zeit startete. Die anderen Passagiere waren überzeugt davon, dass die Flughafenleitung den Beamten gefällig sein wollte, und machten auf Weibo ihrem Ärger Luft. In Fällen wie diesem sieht die Internetzensur über die Kritik großzügig hinweg. Immer wieder werden auf Weibo Details über korrpute Staatsdiener verbreitet.

Nachrichten blockiert

Doch als vor einigen Tagen Links zu einem kritischen Artikel der New York Times über den Wohlstand von Premier Wen Jiabao global die Onlinerunde machten, war in Chinas Twitter-Ausgabe nichts darüber zu finden. Alle Bezüge darauf waren in Blitzeseile geblockt worden.

"Alles, was in China online geht, einschließlich Weibo, ist nicht zufällig, sondern Teil des offiziellen Plans", sagt ein dort lebender Amerikaner, der sich Martin Johnson nennt. Johnson ist der Gründer von Greatfire.org und Freeweibo.com, Webseiten, die Chinas Internetzensur beobachten.

Ungeschriebene Regeln

So ist es kein Problem, wenn ein Blogger namens Huazong, der auf Weibo den Spitznamen "Watch Watchdog" hat, reihenweise Bilder von Provinzbeamten mit dicken Uhren an der Hand postet, die sie sich angesichts ihres Gehalts eigentlich nicht leisten könnten. In Sachen Kritik gelte jedoch die ungeschriebene Regel: Je höher ein Politiker gestellt ist, desto eher greifen die Zensoren ein. Die Zensur kümmere sich generell weniger um soziale Plattformen, sagen viele Beobachter der chinesischen Internetszene. Branchendaten hätten zudem gezeigt, dass die Mehrheit der Weibo-Nutzer den Mikrobloggingdienst zwecks Unterhaltung und nicht für politischen Aktivismus verwendeten. Der Durchschnittschinese sei ja nicht naiv.

Reformen?

Wann es in China ein signifikant freieres Internet geben wird, bleibt Spekulation. Doch wenn es kommt, dann aus dem offensichtlich politischen Grund, dass sich die neue Führung ein besseres Image hinsichtlich ihrer Reformbereitschaft, einschließlich Meinungsfreiheit, verpassen möchte als die alte Garde.

Die Weibo-Nutzer werden dann schnell herausfinden, wie viel Freiheit die neue Regierung bereit ist zu tolerieren. (kat, Reuters, DER STANDARD/Printausgabe, 3.11.2012)