Aus rein antisemitischen Gründen rund um 1930 aus Wien vertrieben: Der Physiker Otto Halpern, der vor genau 30 Jahren starb.

Foto: Zentralbibliothek für Physik

Mitte November 1926 erhielt der Physiker Erwin Schrödinger, damals Professor in Zürich, einen Brief aus Wien. Sein Kollege und Freund Hans Thirring, Ordinarius für theoretische Physik an der Universität Wien, kam darin auf einen Kollegen zu sprechen, den er habilitieren wollte. Sein Name: Otto Halpern. Der gerade erst einmal 26-Jährige war Thirrings Assistent und so etwas wie der Jungstar der theoretischen Physik in Wien.

"Ich schätze besonders seine umfassenden Kenntnisse, seine rechnerischen Fähigkeiten und seinen scharfen kritischen Verstand", schwärmte Thirring. Gerade der letztere Punkt sei es allerdings, der ihn hier leider unbeliebt mache: "Kritik wird bei uns nur gerne gehört, wenn sie sich gegen den abwesenden Dritten richtet." Entsprechend äußert sich Thirring in dem Schreiben aus dem Jahr 1926 "etwas besorgt darüber, dass dies einerseits von seinen 'Freunden' hier im Haus und andererseits den tonangebenden Hakenkreuzlern unserer Fakultät hintertrieben werden könnte".

Thirring, der Vater des Physikers Walter Thirring, sollte nicht ahnen, wie recht er mit seinen Befürchtungen hatte: Der Habilitationsantrag Halperns wuchs sich in den folgenden Jahren zu einem der skandalösesten Verfahren der österreichischen Hochschulgeschichte aus und führt nachdrücklich vor Augen, wie sehr die Alma mater Rudolfina bereits in den 1920er-Jahren antisemitisch und nationalsozialistisch unterwandert war. Der Fall zeigt aber auch, dass früh Vertriebene wie Halpern nach 1945 nicht auf Wiedergutmachung oder auch nur Anerkennung hoffen durften, weil einige seiner damaligen Widersacher in der Zweiten Republik Schlüsselstellen im völlig verprovinzialisierten heimischen Wissenschaftsbetrieb besetzten.

Klassische Literatur und Physik

Geboren am 25. April 1899 als ältester Sohn des Arztes Heinrich Halpern und seiner Frau Ernestine, besuchte Halpern das akademische Gymnasium in Wien, wo er schon früh eine Passion für klassische Literatur und für Physik entwickelte. Bis 1922 studierte er an der Universität Wien, vor allem Physik bei Thirring. Daneben interessierte sich Halpern auch noch für Nationalökonomie und Psychoanalyse. Danach wurde er Assistent bei seinem wichtigsten Lehrer und machte ab 1923 in Seminaren und Übungen Studenten mit den damals neuesten Bereichen der Physik vertraut, unter anderem mit Albert Einsteins Relativitätstheorie.

Halperns frühe wissenschaftliche Arbeiten (die erste schrieb er schon mit 19) las auch Albert Einstein und sogar zum Teil noch verbessert. Als er es mit 25 zum ersten Mal mit der Erlangung der Lehrbefugnis versuchte, wurde Halpern vertröstet: Es sei noch nicht genug Zeit seit der Dissertation verstrichen. Kurz nach Thirrings Brief Ende 1926 wurde es dann wirklich ernst: Das Verfahren begann, bei dem die "Bärenhöhle", eine geheime Clique von antisemitischen, "hakenkreuzlerischen", aber auch dem CV angehörigen Professoren, eine entscheidende Rolle spielen sollte: Halpern war nämlich jüdischer Herkunft; seine Karriere musste deshalb verhindert werden.

Zunächst sorgte die Bärenhöhle dafür, dass ihre geheimen Vertreter in den entscheidenden Sitzungen dabei waren. Der Historiker Carl Patsch wurde zum Vorsitzenden der Habilitationskommission bestellt, zudem hatte sich sein Historiker-Kollege Heinrich Srbik nominieren lassen, so wie Patsch Bärenhöhle-Teilnehmer und in der NS-Zeit dann Präsident der Akademie der Wissenschaften. Schließlich wurde als Dozentenvertreter auch noch der junge Paläontologe Kurt Ehrenberg entsandt. Der war nicht nur Assistent und Schwiegersohn des antisemitischen Paläobiologen Othenio Abel, des Bärenhöhle-Gründers, sondern auch (nationalsozialistischer) Wortführer im Privatdozentenverein.

Die Lüge der Unverträglichkeit

Da Halperns wissenschaftliche Qualifikation unumstritten war, bemühten die Bärenhöhle-Teilnehmer die persönliche Eignung als Ablehnungsgrund. Die persönliche Eignung hatte man wenige Jahre zuvor als Teil der Habilitationsnorm eingeführt, nun konnte man mit diesem Trick missliebige (also jüdische und/oder linke) Forscherinnen und Forscher verhindern. Also versuchten Srbik und Ehrenberg in den beiden Sitzungen mithilfe von drei Zeugenaussagen zu belegen, dass Halpern schwierig im kollegialen Umgang sei und es entsprechende Beschwerden von Kollegen gäbe.

Zudem führte Halperns persönlicher Erzfeind Adolph Smekal (später NSDAP-Mitglied und Vertreter der Deutschen Physik) noch ein anscheinend völlig belangloses Detail an: Halpern hatte als 21-Jähriger einen Institutsschlüssel verloren, diesen nachmachen lassen und damals seinem Vorgesetzten Hans Thirring angeblich zunächst eine nicht ganz richtige Angabe gemacht. Die groteske Pointe der lächerlichen Anschuldigung: Thirring selbst hatte die Sache längst vergessen, stellte Halpern danach als Assistenten ein und: Thirring war es, siehe oben, der Halpern habilitieren wollte.

Bei der zweiten Kommissionssitzung im Februar 1927 fiel die Abstimmung über die wissenschaftliche Eignung mit 12 zu 0 Stimmen für Halpern aus, in der Abstimmung über die persönliche Eignung Halperns gab es 7 Pro-Stimmen (von sieben Physikern), zwei dagegen (die fachfremden Antisemiten Ehrenberg und Srbik), sowie drei Enthaltungen. Ein Monat später stimmte das 50-köpfige Professorenkollegium ab – und schloss sich der antisemitischen Minderheit im Fachkollegium an: 27 Professoren hielten Halpern für persönlich ungeeignet, 17 für geeignet und sechs enthielten sich der Stimme. Interne Proteste insbesondere der Physiker blieben folgenlos.

Der konsternierte Halpern wollte eine Begründung für die Ablehnung. Wie ihm Patsch mitteilte, sei "der Gesichtspunkt hervorgetreten, dass das Verhalten des Habilitationswerbers Mitforschern und Kollegen gegenüber ein derartiges war, dass im Falle seiner Zulassung ein gedeihliches Zusammenarbeiten mit dem übrigen Lehrkörper nicht zu erwarten sei". Das war Halpern und seinem Anwalt zu wenig, zumal sich bis auf die drei Zeugen sämtliche anderen Mitarbeiter aller physikalischen und mathematischen Institute der Universität Wien auf Nachfrage Thirrings höchst positiv über Halperns Umgang äußerten.

Ein kleiner Knalleffekt

Der Physiker protestierte auch beim Unterrichtsministerium. Im Herbst 1928 gab es dann einen kleinen Knalleffekt: Der Verwaltungsgerichtshof, den Halpern mit seinem Rechtsanwalt angerufen hatte, gab der Beschwerde recht und sah die Begründung der Ablehnung seitens der Universität als mangelhaft an. In den folgenden Jahren ging das Verfahren zwischen Halpern, der Universität, dem Ministerium und dem Verwaltungsgerichtshof hin und her, kostet hunderte von Sitzungsstunden und produzierte rund 600 Seiten an Aktenmaterial.

An der Universität Wien machten alle jährlich wechselnden Dekane und Rektoren sowie der akademische Senat und das Professorenkollegium nahezu geschlossen die Mauer gegen den jungen theoretischen Physiker. Da die "kollegiale Unverträglichkeit" nicht mehr zu argumentieren war, wurde als neuer Grund für die Ablehnung der Schlüsselverlust sowie das angebliche Fehlverhalten danach angeführt. Ende 1932 waren schließlich auch die zuständigen Richter am Verwaltungsgerichtshof so weit korrumpiert, dass sie der Universität Recht gaben, ohne dass sich am lächerlichen Sachverhalt etwas geändert hätte.

In der abschließenden Verhandlung im Verwaltungsgerichtshof am 10. Dezember 1932 hatte der Pädagogikprofessor Richard Meister, amtierender Dekan und ebenfalls Bärenhöhle-Teilnehmer, die Universität gegen Halpern vertreten. Nach erfolgreicher Verhandlung sprach ihm der antisemitische und nationalsozialistische Rektor Othenio Abel für seine "von so schönem Erfolge begleitete Tätigkeit (...) den besten Dank aus".

Von Heisenberg in die USA

Halpern selbst hatte längst schon das Schlimmste befürchtet und war 1928 mit einem Rockefeller-Stipendium von Wien nach Leipzig ausgewandert, um dort bei Werner Heisenberg, dem deutschen Jungstar der Quantenphysik, forschen zu können. Und als Heisenberg eine Stelle in den USA offeriert wurde, schlug dieser das Angebot aus und stattdessen Halpern vor, der 1930 nach New York übersiedelte. Dort machte er dann groß Karriere – und leistete einen nicht ganz unwesentlichen Beitrag zur Kriegsniederlage der Nazis.

In einem geheimen Militärlabor des späteren Physik-Nobelpreisträgers Isidor Isaac Rabi am M.I.T. in Cambridge entwickelte Halpern eine gummiartige Substanz namens Halpern Anti-Radar Paint (HARP), die US-Flugzeuge und U-Boots davor schützte, vom feindlichen Radar entdeckt zu werden. Die wichtigste Eigenschaft war eine hohe Dielektrizitätskonstante – ein Thema, an dem Halpern schon in Wien gearbeitet hatte. Der Physiker hatte jedoch abermals Pech: Er konnte seine Erfindung nicht als Patent anmelden, weil sie unter das Kriegsgeheimnis fiel.

Dennoch strengte der gar nicht konfliktscheue Halpern einen Prozess gegen die USA an. Hatte er mit juridischen Mitteln gegen den Antisemitismus keine Chance gehabt, so gab ihm der Oberste Gerichtshof der USA nach fast 20 Jahren Recht: 1960 erhielt er vom Verteidigungsministerium eine Abfindung von 340.000 US-Dollar (heute umgerechnet rund 2 Millionen Euro) und ein Jahr später die "Special Defense Department Medal", die höchste Auszeichnung, die das Verteidigungsministerium an Zivilisten verleiht.

Wiedergutmachungen hüben und drüben

In einem Interview anlässlich der Verleihung zeigte sich Halpern höchst erfreut und ganz und gar nicht nachtragend: "Wäre ich nicht undankbar, wenn ich mich beklagen würde, da doch das Verteidigungsministerium alles tut, was möglich ist, um mich für all die bitteren Jahre zu entschädigen?" Vielmehr sei er sehr glücklich über all die Wiedergutmachungen.

Wie aber sah es mit Wiedergutmachungen in Österreich aus? Ein Kollege hielt dazu, vermutlich basierend auf Gesprächen mit Hans Thirring, in einem undatierten Gedächtnisprotokoll lange nach 1945 kurz und bündig fest: Halpern "wurde von Österreich in keiner Weise wegen seiner Verdienste um die Physik geehrt, da seine Feinde zum größten Teil in Amt und Würde sind." Chancen zur Wiedergutmachung hätte es jedenfalls gleich mehrere gegeben: Von 1953 an hielt sich Halpern drei Jahre in Europa auf und besuchte auch mehrere Male Wien.

Richard Meister zum Beispiel, der im entscheidenden Verfahren gegen Halpern 1932 gesiegt hatte, war in diesen Jahren gerade Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; 1948 hatte Meister zudem ein Ehrendoktorat seiner eigenen Universität erhalten, die ihn 1956 auch noch mit dem von den Nazis eingeführten Titel "Ehrensenator" schmückte. Außerdem wurde Meister das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst umgehängt und 1972 auch noch die Meistergasse in Wien nach ihm benannt.

Auch nach 1964 lebte Halpern noch einmal drei Jahre lang in Wien. Von späten Wiedergutmachungen oder Auszeichnungen des offiziellen Österreich ist nichts bekannt. An wissenschaftlichen Gründen für allfällige Ehrungen hätte es bei Halpern jedenfalls nicht gemangelt: Der deutsche Physik-Nobelpreisträger Max von Laue soll über den lange vor 1938 aus Wien vertriebenen Forscher gesagt haben: "Wenn Enrico Fermi als Ingenieur der Neutronen angesehen werden kann, so gilt für Otto Halpern, dass er als Physiker der Neutronen zu bezeichnen ist."

Dieses Zitat und andere Würdigungen der physikalischen Verdienste Otto Halperns, der vor ziemlich genau 30 Jahren am 28. Oktober 1982 in London starb, finden sich in einem Nachruf, den sein Kollege Paul Urban 1983 im Fachblatt "Acta Physica Austriaca" publizierte. Der Text endet mit der Bemerkung, dass Halperns "Bedeutung für den Einfluss Österreichs auf die Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht hoch genug geschätzt werden kann." Es bleibe, so Urban abschließend, nur noch der Auftrag, "zur Ehre unseres Landes (...) unserem verstorbenen Freund ein ehrendes Andenken zu bewahren."

Ich fürchte, seit Urbans Nachruf ist das der erste Artikel, der in Österreich über Otto Halpern verfasst wurde.