Ein Schulschwänzer beweist in Bence Fliegaufs Ungarn-Gesellschaftsdrama "Csak a szél" überraschenden Weitblick.

Foto: Viennale

Die Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten aus den Jahren 2008/09. Eine Roma-Familie wird in einem ungarischen Dorf erschossen. Die Täter laufen weiterhin frei herum. An ihrer Verhaftung scheint die Polizei nicht sonderlich interessiert. Alle Nachbarn leben in ständiger Angst vor einem neuen Pogrom.

Csak a szél folgt einen Tag lang einer Familie, die mit der Bedrohung leben muss. Die Kamera heftet sich an die Fersen der Mutter, die nicht nur ihren bettlägrigen Vater pflegt, sondern auch mit zwei Jobs in der Stadt versucht ihre Familie durchzubringen; sie begleitet den jungen Sohn, der die Schule schwänzt, um in weiser Voraussicht ein Versteck in der Wildnis weiter auszubauen, und die Teenagertochter, die in der Schule Zeugin eines Verbrechens wird, das sie nicht meldet - offenbar aus Furcht, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Vater ist nur über das Internet präsent. Er ist bereits nach Kanada ausgewandert und hofft, die Familie bald zu sich holen zu können. Bevor der Mob auch sie erwischt.

Die rastlose Handkamera, die knapp hinter der Schulter den Protagonisten auf ihren rastlosen Unternehmungen folgt, ist ein Markenzeichen der Filme der belgischen Brüder Dardenne (Der Junge mit dem Fahrrad), doch Regisseur Bence Fliegauf und sein Kameramann Zoltán Lovasi finden eine eigene, lyrischere Interpretation dieses inzwischen vielfach kopierten Stils. Das Licht eines warmen Sommertages taucht die Szenerie in eine trügerische friedliche Atmosphäre. Auffallend ist die Körpersprache der Hauptdarsteller, allesamt Laien: Mit gesenktem Kopf gehen sie durch den Tag, als ob sie Angst hätten, der direkte Blick in das Gesicht eines anderen Menschen könne als Provokation missverstanden werden.

Fliegauf macht subtil die Bedrohung im Alltag spürbar. Dabei lässt er den Zuschauer nie mehr wissen als seine Protagonisten. Nur an einer Stelle benutzt er einen Dialog, um den alltäglichen Antiziganismus in Ungarn auf den Punkt zu bringen. Ein lustlos ermittelnder Polizist erklärt seinem Kollegen, dass die Täter die falschen Roma umgebracht hätten. Die Ermordeten hätten schließlich eine Arbeit gehabt und gehörten damit nicht zum schmarotzenden Pack. Das ist der einzig konstruiert wirkende Moment im gesamten Film, weil hier zum Zuschauer gesprochen wird, statt dass sich die Szene direkt aus der dargestellten Realität ableitet.

Ansonsten behandelt Csak a szél ein aktuelles, hochpolitisches Thema in einer filmischen Form, die mehr vom Zuschauer verlangt, als es sich in seiner eigenen Betroffenheit bequem zu machen. Zugleich gelingt es Fliegauf, mehr Empathie mit seinen Figuren zu vermitteln als die meisten weitaus offensichtlicher auf Tragödie getrimmten Filme. Der Große Preis der Jury bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen in Berlin war dafür der mehr als verdiente Lohn. (Sven von Reden, DER STANDARD, 29.10.2012)