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Gefangen im Rache-Kontinuum: Elektra (Christiane von Poelnitz, li.) und Mutter Klytämnestra (Catrin Siebeck) in "Elektra".

Foto: REUTERS/Herwig Prammer

Wien - Ein schmaler, schwarzer Spalt klafft in Olaf Altmanns Bühne im Wiener Burgtheater: als wäre ein Blitz aus dem Schnürboden niedergefahren und hätte sein Muster in die Bretter gebrannt. Das übrige Portal, mit grauem Holz verkleidet, bildet eine undurchdringliche Wand. Es gibt kein Entrinnen in Hugo von Hofmannsthals Elektra. Die da drinnen müssen den Mord an Agamemnon sühnen. Sie sind dem Vollzug des Schicksals preisgegeben, das nur die blinde Abfolge von Freveltat und Rache kennt.

Etwas anderes ist es, sich an den Qualen Elektras zu weiden. Die hölzerne Scharte reicht bis an den Schnürboden hinan. Sie ist schwarz gerahmt, als hätte man es in Michael Thalheimers 75-minütiger Burg-Inszenierung mit einem Partezettel zu tun.

In diesem gefrorenen Blitz steckt Elektra (Christiane von Poelnitz) fest, die Tochter Agamemnons, die auf die Auslöschung ihrer gattenmörderischen Mutter Klytämnestra sinnt. Die offenen Akkorde einer nachlässig angeschlagenen E-Gitarre wehen herein (Musik: Bert Wrede). Poelnitz stiert ins Offene hinaus, das hennarote Haar fällt spröde auf ihre rechte Schulter nieder. Die Arme hält sie an die Wände gepresst, das Bein zuckt, und wie ein schwerer Stein löst sich das erste Wort aus ihrem Mund: "Allein!"

So hat Regisseur Thalheimer gleich zu Anfang die ganze Unternehmung auf den Begriff gebracht: Die arme Elektra kann gar nicht anders, als immer denselben trüben Gedanken zu wälzen. Sie vergegenwärtigt sich das unschöne Ende ihres Herrn Papa ein ums andere Mal. Hofmannsthals herrliche Verssprache strömt wie flüssiges Magma. Diese Elektra ist nach derjenigen des Sophokles die mit Abstand modernste: Man muss die Person für traumatisiert erklären. Sie verweigert den Abgleich ihrer Vaterfixierung mit den Tatsachen des Lebens.

Elektra ist auch gar nicht allein. Ihre blonde Schwester Chrysothemis (Adina Vetter) schiebt sich durch einen langen Gang. Am Mauerspalt vorne herrscht alsbald dichtes Gedränge. Elektra hatte sich gerade in Zorn deklamiert. Es kommt zu Duetten, deren meist unschöner Verlauf durch räumliche Enge gekennzeichnet ist.

Einfache Lösungen

Thalheimer gilt völlig zu Recht als Meister der sinnfälligen Verdichtung. Wo andere die Ergebnisse ihres szenischen Nachdenkens ins Ungemessene ausdehnen, da hat er eine einfache Lösung parat. Die Risiken und Nebenwirkungen dieser ein wenig altklugen Vorgehensweise liegen auf der Hand. Als Zuschauer weiß man in der Minute Bescheid, wohin die kurze Reise gehen soll. Hier, im Falle der Elektra, treibt Thalheimer das Geschehen auf die Nadelspitze.

Die körperlich ineinandergeflochtenen Kontrahenten sind einander ausgeliefert. Sie zittern und zagen, so wenn Elektra den Mord an ihrer Mutter (Catrin Striebeck) gleichsam in der Sprache vollzieht. Striebeck kauert als Häuflein Elend neben ihrem Gift und Galle deklamierenden Spross. Schließlich streichelt sie der Ungeheuerlichen sanft den Arm: der schönste, weil herzzerreißende Moment des Abends.

Der Nachteil der szenischen Diätvorschreibung ist leicht zu benennen. Die Nahaufnahme raubt den Figuren jeden Umraum. Es bleibt nichts zu entwickeln übrig. Der schimmernde Mantel der Rhetorik liegt eng an wie ein Trikot. Die natürliche Abfolge aus Aufschub und Entladung wirkt unvorteilhaft zusammengepresst.

Dem Mythos wollte schon Hofmannsthal keinen rechten Glauben schenken: Seine Tragödie ist der grandiose Versuch einer Verweltlichung des finsteren Geschehens. Für Thalheimer und seine herrlichen Schauspieler bleibt nur noch der Auf- und Ausweis des im Vorhinein Gewussten: Es ist ungesund für die Psyche, sich an die Vergangenheit zu ketten. Die Gegenwart in Form einer gut gemachten, aber kunstgewerblichen Aufführung wurde respektvoll akklamiert.   (Ronald Pohl, DER STANDARD, 27./28.10.2012)