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Das Mundabwischen empfinden nicht alle älteren Menschen als liebevolle Geste. Und nicht immer ist sie als solche gemeint.

Foto: REUTERS/Christian Hartmann

Wien - Einen pflegebedürftigen Menschen zu versorgen kann belastend sein, vor allem für Angehörige. Von den aktuell 435.000 Pflegegeldbeziehern in Österreich werden rund 80 Prozent zu Hause gepflegt. Wird aus der Belastung eine Überlastung, kann es zu Übergriffen kommen, auch innerhalb von Institutionen.

Die Formen dafür sind vielfältig und oftmals subtil: vom Einbehalten eines Teils des Pflegegeldes bis hin zu ungeduldigem Füttern oder Vernachlässigung. "Gewalt an Pflegebedürftigen ist immer ein Hilfeschrei", sagt Wolfgang Iro vom Fonds Soziales Wien (FSW). Und ein großes Tabuthema: Laut Weltgesundheitsbehörde erleben 10 Prozent der zu Pflegenden Gewalt, Iro schätzt die Zahl um ein Vielfaches höher.

Fingerspitzengefühl

"Es ist schwierig, das herauszufinden, wir können nicht auf Verdacht in eine Wohnung gehen." Erst wenn sich die Familie oder Nachbarn an eine Institution wenden, kann mit viel Fingerspitzengefühl die Situation festgestellt werden. Zu sensibilisieren steht im Zentrum, den Angehörigen ist selbst oft nicht bewusst, dass ihr Verhalten als Gewalt empfunden wird.

Problematisch wird es, wenn alte Rechnungen beglichen werden. Etwa von den Kindern oder Ehepartnern, die früher selbst Gewalt erfahren haben und sich nun in umgekehrten Rollen wieder finden. "In solchen Fällen ist ein Aggressionsmuster da", weiß Iro.

Bei einer Demenzerkrankung, wenn sich die Persönlichkeit eines Vertrauten schlagartig ändert und er nicht mehr erreichbar ist, kann der Faden irgendwann reißen. Auch Angehörige sind Opfer der Situation, meint Iro.

Anzeigen sind selten

Bemerkt der Besuchsdienst Anzeichen für Übergriffe, kommt es nur sehr selten zu einer Anzeige. "Zum einen wollen wir nicht skandalisieren - es geht hier um Schuld- und Schamgefühle. Zum anderen werden die meisten Anzeigen wieder zurückgezogen", sagt Iro. Angebote wie Urlaubs- oder Kurzzeitpflege sollen die Angehörigen entlasten.

Umgekehrt üben Ältere oft emotionalen Druck aus, fordern zum Beispiel mehr Aufmerksamkeit, ohne Rücksicht auf die berufliche oder finanzielle Situation der Pflegenden. Eine Spirale von Stress und Überlastung.

Das Sozialministerium hat das Thema vorsichtig aufgegriffen, seit 2011 gibt es in allen Bundesländern Workshops rund um Gewalt an älteren Menschen.

"Das ist noch mit viel Angst verbunden, die wenigsten Menschen wollen sich vorstellen, was hinter verschlossenen Türen passiert", sagt Margit Scholta von der Initiative Pro Senectute.

Der Verein leitet die Workshops für das Ministerium und bietet Beratung für alle jene an, die mit Pflege konfrontiert sind. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 25./26.10.2012)