Foto: Markus Bernath
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Die neuere Geschichte des türkischen Straßenhunds im allgemeinen und seiner Aufzucht und Pflege in der Tierstadt Istanbul im besonderen erfährt dieser Tage eine bedeutende Fortschreibung. Anlass ist ein Gesetz, das sich das Wasser- und Forstministerium in Ankara ausgedacht hat und mit dem sich bald die Abgeordneten in der Großen Türkischen Nationalversammlung beschäftigen dürfen. Absicht und Inhalt des Gesetzeswerks sind gleichwohl nicht leicht zu ergründen. So geht Einiges durcheinander und trägt zur Aufwallung der Tierfreunde bei, die nun immer wieder auf die Straßen gehen und gegen Wald-und Wasserminister Veysel Eroglu demonstrieren.

Die Regierung, so hat es den Anschein, möchte ihre Liebe zum Tier mit dem Wunsch nach fortgesetzter Behübschung der Großstädte in Einklang bringen. Mit vazierenden Hunden, aber auch Katzen soll deshalb Schluss sein. Alle werden eingefangen, adoptiert, einer ordentlichen Familie oder Hausgemeinschaft zugeführt und bis zur solchermaßen erzielten Eingliederung in die Gesellschaft in "Naturparks" gebracht. Das ist wohl der Punkt im Gesetzentwurf, der sich am schwersten ausmalen lässt: Kläffer-Parks am Stadtrand? Köfte grillen im Grünen mit 50 Hunden? Spaziergänger, die von Hunderudeln gejagt werden?

Der Verdacht liegt natürlich nahe, dass das Social Engineering der türkischen Stadttierpopulation nach dem Einfangen abrupt endet und Hund und Katz statt zur Adoption stracks vom Leben zum Tode befördert werden. Vergangenes Jahr im September war das schon so, als offenbar Bedienstete der Stadtverwaltung 100 Straßenhunde in den Wald von Bolluca am Rand von Istanbul fuhren und dort vergifteten. Tierschützer merken nun auch an, dass Hunde, die in solchen Parkanlagen gehalten werden, wohl übereinander herfallen.

Das bisherige System funktioniere nicht, sagt aber das Ministerium, die Stadtverwaltungen seien überfordert oder desinteressiert. Bisher sind zumindest in Istanbul Straßenhunde eingefangen, kastriert und mit einem orangen Clip im Ohr wieder freigelassen worden, während Katz und Kater tun, was ihnen die Natur aufträgt. Istanbul hat gewissermaßen eine Bringschuld gegenüber seinen Hunden. 1910 ließ die Stadtregierung 80.000 Hunde einsammeln und auf die unbewohnte Marmara-Insel Sivriada bringen, auf dass sie sich dort zerfleischen und verhungern. Im Juni dieses Jahres sind Anhänger der neuen Tierfreunde-Partei Hayvan Partisi zur Insel gefahren und brachten einen Gedenkstein mit.

Die Kastration bringt den Hormonhaushalt der Straßenhunde etwas aus dem Lot, was zum Wunsch nach vermehrter Nahrungsaufnahme bei gleichzeitigem Ruhebedürfnis und also massiven Übergewicht führt. Kein Pluspunkt für die Adoption und noch eine Ungereimtheit im Gesetzentwurf: Wer will schon einen 30 Kilo schweren, eigenbrötlerischen Hund von der Straße auf seinem Wohnzimmerteppich liegen haben. Einmal ganz abgesehen davon, dass dem Hund Dauerfernsehen, sadistische Kinder und Äußerln an der Leine auch bald auf die Nerven gehen mögen und er sich nach der Freiheit der Großstadt sehnt.

Draußen jedenfalls ist der gemeine türkische Straßenhund (Canis vulgaris turciae sokakta) aus dem Stadtbild nicht wegzudenken. Man baut ihm Hütten aus Kartons am Gehweg (den Fußgänger ohnehin nicht zu benutzen pflegen), serviert Abendessen auf Zeitungspapier, und wenn der Muezzin morgens um halb sechs und nachts um zehn loslegt, dann lässt man ihn mitheulen. So viel Toleranz ist dann doch. (Markus Bey, derStandard.at, 22.10.2012)