In einem 2003 veröffentlichten Track beschreibt Sido detailliert und äußerst explizit, wie er eine Frau und einen Mann anal penetriert. Blut und Schmerzensschreie inklusive. In "Endlich Wochenende" rappt er: "Ich würde gerne meine Aggression rauslassen und dem Erstbesten ins Gesicht klagen, dass ich seine hässliche Technofrisur nicht mag. Dann fällt der erste Schlag, seine Freundin ruft 'Hör doch auf!', doch ich bin erst richtig drauf. Ich such' mit meiner Faust seine Nase, ich seh' Blut, ihn halb tot und komm noch mehr in Ekstase."

Wer jetzt bass erstaunt ist, dass hinter Liedern wie diesem ein Mann mit Aggressionspotenzial und nicht etwa ein feinsinniger Humanist steckt, dem muss man Naivität oder Ahnungslosigkeit vorwerfen. Beides kann sich ein öffentlich-rechtlicher Sender wie der ORF nicht leisten. Beinhartes Quotenkalkül noch weniger.

Explizite sexuelle Sprache, Verherrlichung von Drogen, Begriffe wie "Schlampe" und "ficken" - das war jahrelang das Repertoire des Rappers Sido. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Raps stets rau und roh sind und nicht wörtlich genommen werden können: Gewalt gegen Frauen und Schwulenfeindlichkeit sind mit "künstlerischer Überhöhung" nicht zu rechtfertigen.

Während in Deutschland das öffentlich-rechtliche Fernsehen kritisch über die Gewaltverherrlichung und den Hass in seiner Musik berichtete, setzte der ORF den Rapper als Juror in eine gebührenfinanzierte Familiensendung. Mitten ins Hauptabendprogramm.

Präsentiert wurde Sido, mittlerweile brav frisiert und mit Streberbrille, als polarisierende, als geläuterte Persönlichkeit, die sich aus der Gosse zum Erfolg gekämpft hat. Ein echtes Vorbild. Mit "Blockstars" schneiderte ihm der ORF gleich eine eigene Sendung auf den Leib. Dauerwerbung für sein aktuelles Album inklusive. Auch das ein Novum im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Der ORF vermarktet "Die große Chance" als Abendunterhaltung für die ganze Familie. Schön und gut. Allerdings müssen sich Eltern und Erziehungsberechtigte darauf verlassen können, dass im Hauptabendprogramm eines öffentlich-rechtlichen Senders keine menschlichen Schädel auf Studioböden knallen. Wenn "Jurymitglieder" mit Privat-Securitys "Deine Mutter ist eine Hure!" rufen, bevor sie aufsässige Society-Reporter niederstrecken, geht das entschieden zu weit. So viel Reality bietet derzeit nur der ORF.

Sido trat in den ersten Jahren seines Schaffens stets mit silbrig verchromter Totenkopfmaske auf. Nun ist die Maske gefallen. Hinter dem geläuterten Musiker mit schwieriger Kindheit steckt offenbar immer noch ein Mann mit gehörigem Gewaltpotenzial. Weiche Schale, harter Kern. Auch wenn Sido jetzt auf Facebook zurückrudert und sich entschuldigt.

Der Boulevard schlägt zurück, das Quotenkalkül rächt sich. Dass der ORF derweil die freien Redakteurinnen und Redakteure von Ö1 an der ausgestreckten Hand verhungern lässt, ist angesichts dessen fast schon konsequent in der Missachtung des Bildungsauftrags. Und es ist eine offene Verhöhnung des Publikums. (Lisa Mayr, derStandard.at, 22.10.2012)