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Der Sturm auf Bani Walid beginnt, ein Jahr nachdem Muammar al-Gaddafi gefasst und getötet wurde.

Foto: APA/EPA/Sabri

Libyen steckt in einem schwierigen Transitionsprozess, in dem die Fragmentierung das größte Problem ist - und die vielen Waffen.

 

Tripolis/Wien - Ein Jahr ist es heute, Samstag, her, dass der libysche Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi von Rebellen in Sirte gestellt und getötet wurde. Pünktlich zum Jahrestag legte Human Rights Watch eine neue Dokumentation vor, nach der nicht nur Gaddafi - das war bekannt -, sondern auch zwischen 65 und 70 Menschen in seiner Begleitung, widerrechtlich, das heißt nach ihrer Festnahme, getötet wurden. Auch Gaddafi-Sohn Mutasim Billah war bei seiner Festnahme nur leicht verletzt - und wenige Stunden später tot.

Gerade zum ersten Jahrestag spielt sich das Drama um Bani Walid ab, auf das nach langer Belagerung am Donnerstag der Sturm eröffnet wurde. Bani Walid wird von Mitgliedern des Warfalla-Stammes bewohnt, unter Gaddafi waren sie dessen verwöhnte Klienten. Einwohner Bani Walids, offenbar Gaddafi-Loyalisten, hatten im Juli Omran Shaaban, einen jungen Mann, der bei der Gaddafi-Festnahme eine führende Rolle gespielt haben soll, entführt und wochenlang gefoltert. Parlamentspräsident Mohammed al-Magarief gelang es zwar, ihn freizubekommen, aber Shaaban starb im September in Paris an seinen Verletzungen.

Und nun soll das wider ständige Bani Walid, das die mutmaßlichen Entführer nicht ausgeliefert hat, gebrochen werden. Dem liegt zwar ein Parlamentsbeschluss, in dem der Stadt ein Ultimatum gestellt wurde, zugrunde, aber die Aktion ist dennoch problematisch: Die Angreifer sind eben nicht eine nationale Armee - die es erst in Ansätzen gibt -, sondern die Milizen der Stadt Misrata oder die offiziell in die Armee integrierte "Libyan Shield Brigade", der Shaaban angehörte. Nationale Einheiten wurden zwar am Donnerstag von Tripolis aus in Marsch gesetzt, blieben jedoch stehen, bevor sie Bani Walid erreichten. Ob der Staat irgendeine Kontrolle darüber hat, was in Bani Walid passiert, war am Freitag unklar.

Der Konflikt um Bani Walid - der Ausbreitungspotenzial hat, denn die Warfalla bewohnen auch andere Regionen - ist nicht der einzige. Zu jenen unter den ara bischen Stämmen und unter den Städten kommen die Auseinandersetzungen der Araber mit den diskriminierten Minderheiten (z. B. die Tubu in Südlibyen). Zu dieser Fragmentierung kommt der Wunsch der Cyrenaika (Bengasi) nach einem starken Föderalismus, wenn nicht gar Autonomie.

Und über allem schwebt die Gefahr einer Radikalisierung der islamistischen Gruppen, wie eben jener Ansar al-Sharia, die für den Tod des US-Botschafters verantwortlich sind (siehe Artikel links unten), aber gleichzeitig auch eine Polizeifunktion in Bengasi innehatten, wie andere Milizen auch. Unter der Ägide des Innenministeriums sind etliche Milizen als "Supreme Security Council" zusammengefasst, die die offizielle Polizei bei ihren Aufgaben unterstützen sollen.

Der Staat will und muss die Milizen zwar abrüsten, ist aber für die Aufrechterhaltung der Sicherheit von ihnen abhängig. Was "Integration" genannt wird, ist oft nichts anderes als ein Outsourcing von Sicherheitsaufgaben. Das funktioniert so lange, wie die Interessen des Staats und der Milizen konvergieren.

Dementsprechend schwierig ist auch der politische Prozess: Es gibt noch kaum eine politische Landschaft, sondern vielmehr Vertretungen lokaler Interessen. Dennoch gelang es bisher, den Fahrplan zur Institutionenbildung - die in Libyen von Null auf passiert - einzuhalten. Im Moment versucht nach dem Scheitern eines ersten designierten Premiers der zweite, Ali Zidan, eine Regierung zu bilden.

Gaddafi ist Geschichte, auch die sich marginalisiert fühlenden Menschen in Bani Walid und Sirte träumen wohl nicht von einer Wiederkehr der Familie. Von den Gaddafi-Söhnen ist nur Saif al-Islam in der Hand der Libyer (genauer gesagt der Stadt Zintan, die ihn nicht nach Tripolis ausliefert), drei sind tot, einer in Niger und zwei in Algerien, wie auch die Tochter und die Frau Gaddafis. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, 20.10.2012)