Barbara Helige und ihre Kollegen haben 120 ehemalige Zöglinge befragt. Was sich diese wünschen? Vor allem Anerkennung und Respekt, sagt die Richterin.

Foto: DER STANDARD/Cremer

STANDARD: Sie sind in Wien geboren, Sie sagen, dass Sie diese Stadt lieben. Hätten Sie je für möglich gehalten, dass es in Wien institutionalisierten Kindesmissbrauch über Jahrzehnte gibt?

Helige: Nein, das habe ich natürlich nicht für möglich gehalten. Wie sich aber jetzt immer mehr herausstellt, kam es nicht auf die Stadt oder den Ort an, wo das passiert ist, sondern das war sichtlich in allen Institutionen, die nach gewissen Mustern organisiert waren, möglich. Nämlich in den nach außen hin abgeschlossenen Heimen, wo die Kinder sehr wenig Außenkontakte hatten und kaum Möglichkeiten, auf Missstände hinzuweisen.

STANDARD: Was ist Ihr Resümee nach einem Jahr Arbeit für die Wilhelminenberg-Kommission?

Helige: Unsere Erkenntnisse sind bis jetzt, dass im Heim Wilhelminenberg, wie in anderen Heimen auch, gewaltsame Erziehung an der Tagesordnung war. Dazu gab es noch viele schwere Übergriffe, wie Strafen, die bis zu Verletzungen führten. Und es gab auch sexuellen Missbrauch.

STANDARD: Was ist mit dem Vorwurf serieller Vergewaltigungen?

Helige: Das ist die nächste Dimension. Da sind wir noch am Forschen. Der Endbericht wird unsere Forschungen abschließen. Ob eine endgültige Erkenntnis zu diesem Punkt dabei sein wird, können wir jetzt noch nicht sagen. Was es aber sicher gab, sind sexuelle Übergriffe.

STANDARD: Es gab schon in den 70er-Jahren Beschreibungen über Missstände in städtischen Kinderheimen, etwa im Bericht der ehemaligen SPÖ-Politikerin Irmtraut Karlsson. Wie konnte es sein, dass diese Übergriffe danach trotzdem weiter geschahen?

Helige: In dieser Dimension, die wir jetzt untersuchen, hat Karlsson die Missstände nicht beschrieben. Es wurde aber 1971, als der Bericht erstellt wurde, die Heimkommission eingesetzt, mit dem Ziel, strukturelle Verbesserungen einzuführen. Warum es danach in den 70er-Jahren noch immer zu schweren Übergriffen kam, versuchen wir nachzuvollziehen.

STANDARD: Haben Sie eine mögliche Erklärung?

Helige: Eine Erklärungsmöglichkeit ist ein gewisses Beharrungsvermögen von Strukturen, verbunden mit personeller Kontinuität. Und denken Sie auch an den Haneke-Film "Das weiße Band". Der zeigt Verhaltensmuster, die tief historisch verwurzelt waren. Dass man Kindern nicht glaubt, sondern eher dem Lehrer, Erzieher oder Pfarrer. Das steckte in der Gesellschaft. Das heißt aber nicht, dass es nicht Pflicht gewesen wäre, dagegen anzukämpfen. Ich habe erlebt, wie der berühmte Kinderarzt Cermak gegen die "g'sunde Watschen" gekämpft hat. Er hat bis in die 1980er-Jahre Widerspruch geerntet. Jetzt müssen wir fragen: Was gab es noch, was über diese "ganz normale" Gewalt hinausging, und wer hätte etwas dagegen tun können?

STANDARD: Sie wollten die Verantwortlichen benennen. Haben Sie schon Namen?

Helige: Ich will nicht zu viel vorwegnehmen, aber es zeichnen sich gewisse Verantwortungen langsam ab.

STANDARD: Was passiert dann? Es ist doch das meiste verjährt ...

Helige: Es ist sehr lang her. Aber es könnte gewisse Konstellationen geben, wo dann auch juristisch Konsequenzen gezogen werden können. Voraussetzung für eine strafrechtliche Verjährungsdebatte ist, dass man weiß, wer was getan hat und im späteren Leben der Person sehen kann, ob es noch weitere Übergriffe gegeben hat.

STANDARD: Wenn eine Person also aus dem Dienst für die Stadt Wien ausgeschieden und danach nie mehr auffällig geworden ist, dann schaut's eher schlecht aus?

Helige: Wenn sie nie mehr auffällig geworden ist, schaut's eher schlecht aus. Aber wenn sie in anderem Zusammenhang mit Gewalt auffällig wurde, könnte das wichtig sein.

STANDARD: Die FPÖ sprach von einem "pädophilen Ring im Roten Wien". Geht es in diese Richtung?

Helige: Da möchte ich mich nicht festlegen. Das ist unser Forschungsgegenstand, und ich verhehle nicht, dass das schwierig zu recherchieren ist. Die Zeugen waren damals Kinder und obendrein schwer traumatisiert.

STANDARD: Einige Experten meinen, diese Zustände in Heimen hätten damit zu tun, dass viele Erzieher aus der Nazi-Zeit lange nach dem Krieg noch tätig waren. Sehen Sie den Zusammenhang auch?

Helige: Ich würde den Zusammenhang nicht so einfach herstellen. Ich sehe es eher so: Das Nazi-Regime war ein sehr rigides, gewalttätiges Regime, das aber in Österreich nicht rundweg abgelehnt wurde. Es hat in eine gewisse Tradition gepasst. Und dann kam noch ein sechs Jahre dauernder Krieg dazu, der hat natürlich zur Verrohung einer ganzen Gesellschaft beigetragen. Ich sehe den Fehler darin, dass man nach dem Krieg diesen Schnitt zur Vergangenheitsbewältigung und zur Selbstreflexion nicht gemacht hat.

STANDARD: Irmtraut Karlsson glaubt, Missbrauch und Gewalt hätten in allen geschlossenen Institutionen, auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen, stattgefunden. Glauben Sie das auch?

Helige: Ich halte es für möglich. Pflegeheime sind auch eine Institution, wo Menschen sehr ausgeliefert sind. Davor habe ich schon immer gewarnt. Die Bewohnervertretung war ein erster wichtiger Schritt, weil funktionierende Kontrolle immer entscheidend ist, wenn Menschen ausgeliefert sind. Dass jetzt die Volksanwaltschaft in alle geschlossenen Institutionen, auch in Asylwerberheime, hineingehen darf, das bewerte ich äußerst positiv.

STANDARD: Soll es eine bundes weite unabhängige Untersuchungskommission geben?

Helige: Eine bundesweite Kommission, die sich der Vergangenheitsbewältigung aller in Österreich befindlicher Kinderheime widmet, hielte ich für wertvoll. Bis jetzt hat man das leider nicht zusammengebracht.

STANDARD: Kann es für das, was in Heimen passiert ist, Wiedergutmachung geben? Etwa finanzielle Entschädigungen, wie sie die Klasnic-Kommission an Opfer in katholischen Heimen ausgezahlt hat?

Helige: Ich frage unsere Gesprächspartner immer, was Ihnen wichtig wäre. Ich glaube, sehr wichtig wäre, dass man sich mit diesem Leben im Heim ganz ernsthaft auseinandersetzt und versucht nachzuholen, was damals die Menschen so sehr bedrückt hat: dass ihnen keiner geglaubt hat. Gewaltsysteme zeigen sich ja immer gleich: Der Täter sagt, dir wird keiner glauben - und er erzeugt im Kind damit das Gefühl, selbst schuld zu sein. Therapieangebote sind auch wichtig. Was wir darüber hinaus noch für Schlüsse ziehen werden, dem will ich jetzt nicht vorgreifen.

STANDARD: Ursprünglich war geplant, den Endbericht 2012 vorzulegen. Vor dem Sommer hieß es, dass sich das verzögert. Wann ist nun Deadline?

Helige: Mit der Stadt ist jetzt der 31. Mai 2013 fixiert, das halten wir auch bestimmt ein.

STANDARD: Ein bundeseinheitliches Jugendwohlfahrtsgesetz ist weiter entfernt denn je, stattdessen hat Familienminister Mitterlehner jetzt die Absicht, 15a-Verträge mit den Bundesländern zu schließen?

Helige: Es geht ja um die Bedürfnisse der Jugendlichen und Kinder, und ich meine schon, dass die im gesamten Bundesgebiet ähnlich sind. Ich könnte einem Rahmengesetz viel abgewinnen, aber ich komme als Richterin natürlich aus einem Bereich, der immer in Bundeskompetenzen denkt.

STANDARD: Belastet Sie die Kommissionsarbeit? Wünschen Sie manchmal, Sie wüssten es nicht so genau?

Helige: Es ist schwer auszuhalten, dass so viele Menschen von diesem Gewaltsystem betroffen waren. Dass das sein konnte. Aber ich fände es schrecklich, wenn ich es nicht wüsste. Jetzt kann ich wenigstens im Rahmen meiner Möglichkeiten helfen. Ich frage mich manchmal, ob wir jetzt auch blinde Flecken haben, Missstände nicht sehen wollen.

STANDARD: Welches Ende in der Causa Wilhelminenberg wünschen Sie sich für Wien?

Helige: Dass den ehemaligen Kindern vom Wilhelminenberg, Pars pro Toto, für alle misshandelten Ex-Zöglinge in allen Heimen, endlich der Respekt und die Anerkennung zuteilwird, der ihnen schon damals zugestanden wäre. Und ich wünsche mir, dass wir alle Verantwortung übernehmen. Es kann nicht sein, dass sich einzelne Verantwortliche auf die Gesellschaft ausreden und umgekehrt.