Filmemacher Michael Schindegger: "Ich wollte auch etwas von mir hergeben, wenn ich von allen anderen erwarte, dass sie etwas von sich preisgeben."

Foto: Mischief Films

Einige Familien der jüdischen Hausgemeinschaft bitten Schindegger in ihre Wohnungen.

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Um einen Nachbarn aus der Ukraine besser kennenzulernen, trifft sich Schindegger auch regelmäßig zu einem Deutsch-Russisch-Tandem in dessen Wohnung.

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Auch Schindeggers Familie und die Hochzeitsvorbereitungen mit seiner Freundin Dana sind Teil der Momentaufnahme in Haus Nr. 7.

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Sein ganzes bisheriges Leben hat Regisseur und Kameramann Michael Schindegger in einem Zinshaus in Wien-Leopoldstadt gewohnt. Als er sich entschließt, seine Freundin Dana zu heiraten und aus der großen Wohnung seiner Familie auszuziehen, wird ihm stärker denn je bewusst, dass er über die vorwiegend jüdischen Nachbarn in seinem Haus fast gar nichts weiß. Der Film "Nr. 7" ist die Dokumentation seines Entschlusses, die Menschen kennenzulernen, mit denen er 30 Jahre lang unter einem Dach gelebt hat.

daStandard.at: In anderen Ländern und Kulturen wäre es undenkbar, seine Nachbarn nicht zu kennen. Hier in Wien ist es alltäglich: Man wohnt Tür an Tür mit Menschen, von denen man nichts weiß. Wann wurde Ihr Wunsch, Ihre Nachbarschaft besser kennenzulernen, zur fixen Filmidee?

Schindegger: Als ich entschieden habe, bald wegzuziehen, habe ich mir gedacht, ich würde schon noch gerne wissen, wer da aller wohnt. Auch wenn es irgendwie komisch ist, das erst am Schluss zu machen. Man kennt die Leute im Haus vom Sehen und ich kannte schon ein paar Namen, aber trotzdem gab es diese Momente, wo ich Leute beim Postkasten getroffen habe und draufgekommen bin, die leben auch schon seit 20 Jahren da, aber ich habe das Gefühl, ich habe sie noch nie gesehen.

Für mich war es naheliegend, diesen Prozess des Kennenlernens festzuhalten. Ich habe Ralph Wieser, der den Film produziert hat, von der Idee erzählt, und er war gleich Feuer und Flamme. Dann habe ich ein Konzept geschrieben, aber dann ging es vor allem darum, einfach anzufangen.

daStandard.at: Das heißt, Sie haben dann begonnen, bei all Ihren Nachbarn im Haus anzuläuten.

Schindegger: Genau, aber noch ohne Kamera. Es ging mir ja nicht darum, die Leute zu überfallen. Natürlich verliert man dadurch schon viele Momente des Kennenlernens für den Film, aber ich wusste, es geht nicht anders. Ich muss zeigen, wer ich bin. Ich muss auch etwas von mir erzählen. Es ist eine Art Beziehungsarbeit, Dokumentarfilm ist zu zwei Dritteln Beziehungsarbeit.

daStandard.at: Wie waren die Reaktionen Ihrer Nachbarn auf Ihre Idee zu einem Dokumentarfilm?

Schindegger: Viele konnten sich zuerst nichts darunter vorstellen, weil die meisten Leute Dokumentarfilme fürs Kino gar nicht kennen, sondern nur "Universum"-Dokus schauen oder diese ganz furchtbaren inszenierten Doku-Soaps, wo die Leute vorgeführt werden. Meistens war ich mit diesen zwei Bildern konfrontiert. Und dann musste ich erklären, dass es auch noch andere Dokus gibt.

daStandard.at: Da waren wohl auch Ängste mit im Spiel ...

Schindegger: Ja, ein bisschen. Aber ich will ja niemanden vorführen. Es ging mir darum, die Leute möglichst ehrlich zu zeigen. Sie konnten mir auch immer ihre Grenzen mitteilen - bis dahin und nicht weiter. Ich wusste von Anfang an, dass es nur kleine Einblicke sein werden, ein kleines Über-die-Schwelle-Schauen, ein bisschen etwas erfahren. Für mich ist es so, dass diese Geschichten universell für andere Geschichten stehen und für Dinge, die man selber aus der Familie kennt.

daStandard.at: Inwiefern wurde das Endprodukt so, wie Sie sich Ihren Film zu Beginn vorgestellt haben?

Schindegger: Man weiß ja beim Dokumentarfilm nie, welche Situationen es geben wird und worüber die Leute reden werden. Das heißt, natürlich wird er anders, sehr anders sogar, aber das ist auch etwas, was mir sehr gut gefällt. Was mich interessiert, ist, dass man noch etwas entdecken kann, dass man auch nochmals abbiegen kann und bemerkt, das geht jetzt ganz woanders hin. Es ist gut, wenn man loslässt von Dingen, die man sich vorher zu Recht gedacht hat - vielleicht war das nur im Kopf interessant.

daStandard.at: Das Thema Tradition und Religion steht oft im Mittelpunkt der Erzählungen der mehrheitlich jüdischen Hausgemeinschaft im Haus Nr. 7.

Schindegger: Ich würde eher von Tradition als von Religion sprechen. In diesen Familien strukturiert sie das Leben, sie gibt sehr vieles vor und ist ein Gerüst, das einem Sicherheit gibt. Auch Menschen, die nicht religiös sind, haben Strukturen, sie suchen sich ein Hobby oder eine Beschäftigung, die ihnen eine Struktur vorgibt - wir alle brauchen das, und das finde ich interessant. Und das Judentum ist etwas, das immer da war in diesem Haus und mir von klein auf auch ein Heimatgefühl gegeben hat, ohne dass ich es gut kannte.

Das Jüdische wird von außen oft als einheitliche Tradition wahrgenommen, aber wenn man sich genauer damit beschäftigt, sieht man, dass die Leute sehr unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, aus unterschiedlichen Ländern stammen oder ganz unterschiedliche Sprachen sprechen. So wie der Besitzer des Geschäfts in meinem Film, der sieben Sprachen spricht und jeden Tag alle braucht.

daStandard.at: Sie dokumentieren nicht nur Situationen im Leben Ihrer Nachbarn, auch Ihre eigene Familie und Ihre eigenen Hochzeitsvorbereitungen sind wichtige Teile des Films. Wie erlebten Sie es, gleichzeitig Regisseur, Kameramann und Mitwirkender zu sein?

Schindegger: Für mich war das ein bisschen eine schizophrene Angelegenheit. Ich habe am Anfang überhaupt nicht gedacht, dass ich so viel im Film vorkommen werde. Ich dachte, man wird mich eher hinter der Kamera spüren. Aber dann wollte ich auch etwas von mir hergeben, wenn ich von allen anderen erwarte, dass sie etwas von sich preisgeben. Außerdem wurde auch beim Schneiden zwischendurch klar, dass die Erzählstruktur eher über meine Familie und die Hochzeitsvorbereitungen laufen wird, sozusagen als Konstante oder roter Faden.

"Nr. 7"-Trailer

daStandard.at: Gab es Szenen, bei denen Sie das Gefühl hatten, zu viel von Ihren Nachbarn preiszugeben, und die dann im Film ausgelassen wurden?

Schindegger: Ja, sicher. Das ist immer eine schwierige Frage, was man in den Film hineinnimmt und was nicht. Jeder muss das für sich entscheiden, wo er diese Grenze zieht. In dem Moment, wo ich jemanden filme, überschreite ich ja schon eine Grenze, und wenn man das dann zeigt, gibt man jemanden preis. Ich möchte das Gefühl haben, dass die Leute so rüberkommen, wie ich sie erlebe. Man nimmt ja etwas von den Leuten, und ich möchte nicht, dass jemand durch den Film im Nachhinein ein Problem hat. Sie sollen sich ja auch damit wohlfühlen und damit identifizieren können.

daStandard.at: Welche der Geschichten in Ihrem Film hat Sie am meisten fasziniert? Haben Sie eine Lieblingsszene?

Schindegger: Ja, ich habe eine Lieblingsszene, weil sie genau das darstellt, was mir beim Dokumentarfilm so gut gefällt. Das ist die Situation, wo Josef, der Junge, zu Chanukka die Kerzen anzündet und singt und dann Herr Zinner, der Lehrer, herauskommt und mitsingt. Das ist einfach passiert.

Und das Schöne daran war für mich, dass ich diesen Herrn über Monate immer wieder gefragt habe, ob er mitmachen möchte, und er immer sagte, dass er es noch nicht weiß. Und dann kommt er plötzlich raus, singt mit und bittet mich in seine Wohnung. Das sind diese kleinen Geschenke. Wenn man einen Dokumentarfilm macht, funktioniert vieles ja nicht, man verpasst auch so viel. Aber dann gibt es auch Dinge, die nur entstehen, weil man gerade mit der Kamera da ist.

daStandard: Sie wohnen mittlerweile nicht mehr im Haus Nr. 7. Haben Sie jetzt mehr das Bedürfnis als früher, Ihre Nachbarn kennenzulernen?

Schindegger: Ich wohne wieder in einer Mietwohnung, und ich kenne in unserem Stock schon ein paar Leute. Aber ich habe jetzt nicht das Bedürfnis, die Leute wieder alle zu erforschen! (lacht) Ein bisschen was hat sich schon geändert, ich bin vielleicht ein bisschen offener für Begegnungen im Haus.

Aber ich will nicht sagen, die Welt ist so schlecht, weil wir alle nicht miteinander reden. Ich glaube, Anonymität ist für viele Leute etwas sehr Wichtiges, und das ist auch total okay. (Jasmin Al-Kattib, daStandard.at, 17.10.2012)