Für seine Schöpfungen märchenhafter Fantasie- und Traumwelten ist Tim Walker in der Welt der Modefotografie berühmt. Feen, Faune, Einhörner und Fabelwesen beseelen seine Tableaux vivants. Dass auch andere Facetten seines Schaffens existieren, belegt eine Londoner Retrospektive mitsamt opulentem Bildband.

Foto: Schirmer-Mosel-Verlag

Eine gewisse Entrücktheit sowie realitätsverweigernde Grenzüberschreitungen ist man in der Welt des schönen Scheins gewohnt. Als aktuellen Großmeister theatralischer Inszenierungen, fantastischer Märchen- und Traumwelten aber muss man Timothy "Tim" Walker bezeichnen.

Immer wiederkehrendes Thema seiner detailverliebt real als Tableaux vivants in Szene gesetzten Arrangements ist ein verwunschenes Paradies. Die Kulisse für Walkers bizarres Universum mit überdimensionalen, lebendig gewordenen Puppen und Marionetten, Feen und Elfen, traumhaften Wesen voller Anmut und Grazie bilden typisch englische Landhäuser, kristallene Paläste, imperiale Schlösser, Puppenhäuser, Spielzeugwelten und idealisierte, zauberhafte Landschaften.

Visuelle Reise in ein surreales Universum

Aber Achtung! Hinter der scheinbaren Idylle, den an der Kitschgrenze schrammenden, pastelligen Wolkengebilden lauern Widerhaken, Bosheiten, verstörende Doppeldeutigkeiten. Walker visualisiert die Dämonie der Gemütlichkeit und dekuvriert trügerische Manierismen.

Mittels seiner, wie Sängerin Kate Bush meint, unter "göttlicher Einwirkung" kunstvoll konstruierten Bildgeschichten, perfekt arrangierten, opulenten Aufnahmen unternimmt Walker eine visuelle Reise in ein surreales Universum mit zirzensischen Protagonisten, überlebensgroßen Fabelwesen, gläsernen Schiffen und silbernen Ballons. Aber auch Skelette, Spinnennetze und bleiche Flügelwesen beleben die originäre, von Malerei, Film und Literatur inspirierte Bildsprache. Unter enormem Aufwand, mithilfe eines großen Teams von Stylisten, Kostümbildnern, Modellbauern und Requisiteuren fotografiert Walker - immer analog, niemals digital! - mit duftigem Taft, Tüll, Glitter und Pailletten ausstaffierte Models vor irrealen Szenerien.

Märchenhafte Vita

Allein Walkers Vita mutet nahezu märchenhaft an. Nach dem Studium am Exeter Art College arbeitete der aus dem südenglischen Devon Stammende als Assistent bei Richard Avedon, dem Grandseigneur der Fotografie. Zuvor fand Walker als Praktikant der Vogue, als Archivar der Fotonegative Cecil Beatons Inspirationen seiner eigenen Bildsprache, die seit 1994 weite Strecken der britischen und italienischen Vogue prägen. "Ich will Geschichten erzählen, moderne Märchen schaffen, die unterhalten. Ich will, dass Menschen ein Foto von mir betrachten wie einen Film im Kino, der sie für eine kurze Weile ihre Realität vergessen und in eine andere, fremde, bessere Welt eintauchen lässt", sagt der von Perfektionismus Besessene.

Das simpel Story Teller betitelte Buch, das zeitgleich zur ab heute, Freitag, im Londoner Somerset House gezeigten Retrospektive seines bisherigen OEuvres erscheint, präsentiert die Schöpfungsgeschichte fiktiver Welten. Skizzenbücher, Notizen, Collagen sowie literarische Vorlagen illustrieren Walkers narrative Reisen. Mit Spurenelementen des sexuell Zweideutigen, des Extravaganten. Vergänglichkeit und Verlust kontrastieren mit oberflächlicher Schönheit, der Maßlosigkeit der Haute Couture.

"Beauty will redeem the world!"

Dass Walkers Schaffen auch andere Facetten bietet, dekuvrieren jüngste Arbeiten. Reduziert auf das Wesentliche konfrontiert er mit ungeschminkter Realität. Durch karge, archaische Porträts von Alexander McQueen, Vivienne Westwood, Tilda Swinton, David Lynch u. a. verblüfft er mit spartanischer Klarheit. Ohne Staffage, ohne Requisiten kommt er aber auch hier nicht aus. Bloß dass die sonst beschworene Schönheit in Charme désolée, in morbiden Chic umschlägt.

Vorläufig aber behalten noch unsagbar schöne Wesen die Oberhand. Glaubend an das vom seelenverwandten Tragöden glitzernder Finsternis, dem göttlichen Marc Almond mit Herzblut intonierte Postulat "Beauty will redeem the world!" - "Schönheit wird die Welt retten!" Sic. (Gregor Auenhammer, Rondo, DER STANDARD, 19.10.2012)