Laut EU-Vorgaben müsste ein neues Tierversuchsgesetz bereits am 10. November 2012 beschlossen werden, doch der letzte Termin für eine Sitzung des Wissenschaftsausschusses, an dem ein Entwurf hätte festgelegt werden müssen, um diese Frist noch einzuhalten, verstrich am 9. Oktober ungenutzt.

Ende September wurden die Verhandlungen zwischen den Regierungsparteien ergebnislos abgebrochen, die Vorstellungen liegen offenbar zu weit auseinander. Während die SPÖ auf einem bindenden objektiven Kriterienkatalog für die ethische Schaden-Nutzen-Abwägung besteht, wie in der Schweiz bereits Praxis, und eine Versuchstier-Ombudsschaft für die Oberkontrolle der Genehmigungsverfahren wünscht, möchte das ÖVP-Wissenschaftsministerium scheinbar keine strengen Kontrollen von Tierversuchen. Die Pharmalobby bezeichnete derartige Kontrollen in einer Aussendung als "unnötige bürokratische Hürde", die zur Abwanderung der Wissenschaft aus Österreich führen würde.

Bevölkerung mehrheitlich für Tierschutzforderungen

Laut einer IFES-Umfrage von Mitte September steht die große Mehrheit der Bevölkerung in Österreich hinter den Tierschutz-Forderungen. 85 Prozent wollen einen bindenden Kriterienkatalog, um Tierversuche mit geringem Nutzen, aber großem Tierleid zu verbieten. 78 Prozent wünschen sich eine Versuchstier-Ombudsschaft mit Parteienstellung in den Genehmigungsverfahren für Tierversuche. 78 Prozent erwarten sich die anonymisierte Veröffentlichung der Abläufe aller Tierversuche, um eine öffentliche Kontrolle zu ermöglichen.

Es sprachen sich darüber hinaus 89 Prozent für die Einrichtung eines Zentrums zur Erforschung von Alternativen von Tierversuchen aus, sogar 70 Prozent wollen ein absolutes Tierversuchsverbot an Hunden, Katzen und Affen, das steht jedoch gar nicht zur Debatte. Die Wichtigkeit des Themas Tierversuche in der Gesellschaft unterstreicht, dass 91 Prozent der Bürger und Bürgerinnen ein strenges Tierversuchsgesetz für sehr wichtig oder ziemlich wichtig halten.

Zivilgesellschaft muss aktiv werden

Das Wissenschaftsministerium zeigt bisher keine Bereitschaft, trotz dieser hohen öffentlichen Zustimmung für strengere Kontrollen von Tierversuchen diese in das neue Tierversuchsgesetz aufzunehmen. Meiner Meinung nach scheut man die öffentliche Diskussion und nimmt zu den Argumenten für strengere Kontrollen überhaupt nicht Stellung.

Wie soll die Zivilgesellschaft in einer solchen Situation politisch reagieren? Die große Mehrheit von 80 Prozent wünscht sich eine Änderung, dieser Wunsch droht aber bei Verhandlungen zwischen der Pharmaindustrie und dem Wissenschaftsministerium abseits der Öffentlichkeit ignoriert zu werden. Statt in einer öffentlichen Diskussion, in der sich das Ministerium rechtfertigen müsste, möchte man in nichtöffentlichen "Fachgremien" das neue Tierversuchsgesetz erstellen. Der Zivilgesellschaft bleibt dann nur mehr, durch gezielte Kampagnen die öffentliche Diskussion zu erzwingen.

Aktionen in ganz Österreich

Es gab in den letzten Wochen auch einige Aktionen dieser Art mit öffentlichkeitswirksamen Charakter. Zwei Tierschutzaktivisten, darunter auch Martin Balluch, erkletterten die Statue der Pallas Athene vor dem Parlament in Wien und hissten ein Transparent. Auch in Graz kletterten Tierschützer auf den Uhrturm, in Salzburg auf die Festung, in Feldkirch auf den Katzenturm. Ähnliche Aktionen gab es auf der Kunstakademie in Linz, beim Befreiungsdenkmal und der Triumphpforte in Innsbruck.

In den meisten Städten tolerieren die Behörden diese Aktionen, aber in Innsbruck wurde Martin Balluch zweimal dabei festgenommen, zuletzt am 8. Oktober. Bei der Erkletterung der Triumphpforte in Innsbruck war ich selbst anwesend und konnte alles filmen und fotografieren. Eine Reihe von Anzeigen laufen wegen Störung der öffentlichen Ordnung und Anstandsverletzung, ich persönlich blieb davon glücklicherweise verschont. Werden hier fragwürdige Mittel eingesetzt?

Wie kann sich eine übergangene Mehrheit artikulieren?

Es scheint so, dass das Wissenschaftsministerium und die Tierversuchsseite die öffentlichen Diskussionen scheuen. Offenbar können sie keine nachvollziehbaren Argumente für ihre Ablehnung von strengeren Kontrollen von Tierversuchen liefern. In einer Demokratie ist jedoch, bei gesellschaftlich so wichtigen Themen, die öffentliche Diskussion unerlässlich. Durch teure Werbeeinschaltungen sind finanzstarke Institutionen in der Lage, öffentliche Diskussionen anzufachen; dieser Weg steht der Zivilgesellschaft mit wenig Geld, aber viel Idealismus nicht offen.

Dieses demokratiepolitisch fragwürdige Ungleichgewicht liefert die Rechtfertigung für Gesetzesübertretungen im Rahmen des zivilen Ungehorsams. Die oben genannten Aktionen sind schlimmstenfalls Verwaltungsübertretungen, ähnlich dem Falschparken. Die Förderung der demokratischen Entscheidungsfindung und die Sicherstellung des Primats der Mehrheit sind zweifellos höhere Werte. (Otmar Scheffknecht, Leserkommentar, derStandard.at, 22.10.2012)