Stockholm - Die Kür des Chinesen Mo Yan (57) zum Literaturnobelpreisträger 2012 darf man als kühne, hoch interessante Entscheidung der Stockholmer Akademie auffassen. Mo Yan (bürgerlich: Guan Moye) ist kein erbaulicher Autor.

Sein viele Romane und Erzählungen umfassendes Werk bricht radikal mit den Vorgaben des sozialistischen Realismus. In Mo Yans Prosa hallt das Echo der vorrevolutionären Kultur Chinas nach. Zugleich beschreibt der Autor in immer neuen Anläufen die Etappen der Modernisierung seines Landes.

Mo Yan selbst brachten die Wirren der Kulturrevolution vom vorgezeichneten Bildungsweg ab. Anstatt die Schule abzuschließen, zog er, Maos Losungen im Ohr, mit dem Krampen auf das Feld.

Für den Bauernsohn aus der ostchinesischen Provinz Shandong bildet die Landgesellschaft den natürlichen Hintergrund seines Erzählens. Der Leser seiner frühen Bücher - Mo Yan begann in den frühen 1980er-Jahren zu veröffentlichen - fühlt sich in eine mysteriöse Traumwelt entrückt. Das Gewerbe aber dieses literarischen Taschenspielers ist die Magie.

In Erzählungen wie Durchsichtiger roter Rettich (1986) stehen einfache Menschen im Mittelpunkt, die mit "klaren, schwarzen, großen Augen" auf ihre Umwelt blicken, hart an der Schwelle zum Erwachsensein. Über die Einfachheit der am Land herrschenden Verhältnisse legt sich ein Schleier aus Halluzinationen.

Mo Yan ist ein Wahrnehmungsakrobat. Er hört das Geräusch der Wurzeln, die sich dehnen und strecken. Er verschmäht nicht das Übernatürliche, und er kennt die archaische Grausamkeit. Krieg und Gewalt bilden oft genug die Lebensbedingungen, denen seine Figuren die Stirn bieten.

Mo Yans Helden sind unbeugsame Geschöpfe, und sie gehören beiden Geschlechtern an. Kooperatives Handeln entsteht zwischen ihnen unter dem Eindruck der Gefahr. In dem Roman Das rote Kornfeld (1987) beschreibt Mo Yan die Zeit der japanischen Okkupation. Zugleich entwirft das Buch, das mit drastischen Szenen nicht geizt, ein Handlungsgeflecht aus emanzipierten Figuren.

Gerade Frauen besitzen im Universum dieses irrlichternden Heimatdichters Sitz und Stimme: ein Novum in der chinesischen (Erzähl-)Kultur. Zugleich kann Mo Yang seine Faszination durch Tod und Gewalt kaum verhehlen.

Autoren wie Mo Yan, die die neuen Freiheiten in der chinesischen Gesellschaft für sich nutzten, sind Ausdruck einer erdrutschartigen Entwicklung. Die traditionelle Landbevölkerung zieht mit Beginn der 1980er in Massen in die Städte.

Die entwurzelten Menschen erleben ihre neue Umgebung als Sumpf aus Schmutz und Korruption. In Die Schnapsstadt (1999) sieht man, wie sich die alten Kader in die neuen Eliten verwandeln. Wie die Ernährer von Gestern unter dem Diktat des Wohlstands zu den Kannibalen von heute werden.

Mo Yan häuft Fiktion auf Fiktion. Er zieht seinen Figuren die Haut bei lebendigem Leibe ab. Aber bei aller Artistik, durch alle Schichten des Grauens hindurch, bleibt die Stimme des traditionellen Dorferzählers vernehmbar: die Aufschneiderei der Bauern, die in der alten Heimat endlos ihre in Blut und Tränen getränkten Geschichten zum Besten gaben.

Seit langem schon wohnt der Autor in Peking. Seine Literatur ist Ausdruck einer Kultur im - allerdings rapiden - Wandel. Sie hat sich zäh gegen die Vorschreibungen der kommunistischen Kulturpolitik zur Wehr gesetzt. Zugleich hat Mo Yan das Primat der Partei niemals infrage gestellt. Als offizielles Delegationsmitglied bei Chinas Gastlandauftritt in Frankfurt (2009) verbat er sich Vorwürfe, er würde sich vom System nicht entschieden genug distanzieren.

Die Stockholmer Weisen beschieden ihm jetzt jedenfalls, eine "Mischung aus Faulkner, Charles Dickens und Rabelais" zu sein.    (Ronald Pohl, DER STANDARD, 12.10.2012)