Wien - Weihnachten naht, wenn in der Wiener Staatsoper Die Puppenfee oder Der Nussknacker auf dem Ballettspielplan stehen. Balletchef Manuel Legris ist ein Schüler des großen Rudolf Nurejew, und so wurde erstmals an der Staatsoper dessen technisch komplexe Nussknacker-Version von 1967 einstudiert. Eine sehenswerte Aufführung für Liebhaber des Bestsellers zur Musik Tschaikowskys mit den hervorragenden Solisten Liudmila Konovalova und Vladimir Shishov.
Nurejew bearbeitete das Libretto von Marius Petipa und Lew Iwanow im Trend der damals boomenden Tiefenpsychologie. Im Original stand das märchenhafte Erlebnis vom lebendig gewordenen Spielzeug im Vordergrund. Als Clara während des Weihnachtsfestes mit ihrem neuen Nussknacker im Arm einschläft, tummeln sich plötzlich allerhand Spielzeuge im Wohnsalon.
E. T. A. Hoffmanns mehrdeutige Erzählung Der Nussknacker und der Mäusekönig kamen da zu kurz. Nurejew interessierte sich speziell für die erotische Komponente des heranwachsenden Mädchens an der Schwelle zur Frau. Im Schlaf erträumt sie sich aus ihrem hölzernen Nussknacker, dem Weihnachtsgeschenk des Patenonkels Drosselmeyer, einen attraktiven Prinzen.
Dass der Traumprinz dem Onkel ähnlich sieht, ist Nure- jew'schen Ursprungs. Die Hoffmann'schen Mäuse mutieren zu listigen Ratten. Hier kämpft der Rattenkönig gegen die Armee des Nussknackers. Dargestellt von Ballettschülern in Nagerkostümen und Zinnsoldatenanzügen, sind diese Szenen Publikumsfavoriten.
Die dramaturgische Schwäche liegt im zweiten Akt, den Nurejew aus der Originalfassung beließ. Für das Publikum des 19. Jahrhunderts war die Handlung ein Vehikel zum Höhepunkt mit den Divertissementes, einer Aneinanderreihung verschiedener Charaktertänze, mehrerer Pas de deux und Soli. Im Traum sieht Clara ihre Familie in ferne Länder versetzt. Gelegenheit also für einen spanischen, russischen, chinesischen und arabischen Tanz, allesamt in opulenten Kostümen. Zum Finale das große Pas de deux Claras und des Prinzen - bravourös getanzt von Konovalova und Shishov - erwacht Clara aus ihrem Traum.
Die Leistung des Staatsballetts kompensiert eine leichte Langeweile. Bei der Premiere lief es noch nicht ganz rund; zu stark war die Konzentration auf die fordernde Fußtechnik. Insgesamt aber eine große Ensembleleistung, bestens unterstützt vom Wiener Staatsopernorchester mit Paul Conelly am Dirigentenpult. (Barbara Freitag, DER STANDARD, 9.10.2012)