Kamer Kasım: "Ich denke nicht, dass Russland für Assad in den Krieg ziehen würde."

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Von einer syrischen Granate getroffenes Wohnhaus in Akçakale.

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Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien.

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Die türkisch-syrische Grenzregion ist seit Monaten Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen den Truppen des Regimes von Präsident Bashar al-Assad und Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA). Jüngst traf eine syrische Artilleriegranate die türkische Ortschaft Akçakale, fünf Menschen wurden dabei getötet. derStandard.at sprach mit dem türkischen Politikanalysten Kamer Kasım über die Reaktion der Türkei, die Kriegsgefahr zwischen den beiden Ländern und wie die Rolle Saudi-Arabiens und Katars einzuschätzen ist.

derStandard.at: Die türkische Tageszeitung "Taraf" meldete, der Gegenschlag der Türkei sei nicht der erste dieser Art gewesen, man habe es nur nicht an die Öffentlichkeit bringen wollen. Ist da etwas dran?

Kamer Kasım: Ja, das ist wahr, nur konnte und wollte man dieses Mal eine klare Botschaft senden und dies eben nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit tun. Das Problem ist, dass natürlich derlei "Unfälle" im Grenzgebiet immer wieder passieren und weiterhin passieren werden. Das ist die eigentliche Gefahr, da dies wiederum die Türkei unter Zugzwang bringen würde.

Daher denke ich, dass die Türkei eine andere Möglichkeit der Prävention (die sogenannte Pufferzone, Anm.) suchen muss. Um das zu erreichen, wurden auch gestern UNO und NATO eingeschaltet. Es geht also nicht um das Ausrufen des NATO-Bündnisfalls, sondern um die Umsetzung einer Pufferzone im türkisch-syrischen Grenzgebiet. All das wäre natürlich nicht geschehen, wenn die von der Türkei früh geforderte Pufferzone etabliert worden wäre.

derStandard.at: Wie beurteilen Sie die Entschuldigung Syriens nach dem tödlichen Angriff auf Akçakale?

Kasım: Ich denke, dass Assad die türkischen Gegenschläge hinnehmen wird. Das Verhältnis zwischen der Türkei und Syrien ist unwiederbringlich zerstört. Daher muss das Regime auch eingesehen haben, dass es sich in der gegenwärtigen Lage keine militärische Intervention der Türkei leisten kann. Ich sehe die offizielle Entschuldigung als einen Versuch, die Türkei weiterhin aus dem Konflikt im eigenen Land heraus zu halten.

derStandard.at: Der Angriff kam aus einem Grenzbezirk namens Telabyad. Die FSA hatte eigentlich verkündet, diesen Bezirk erobert zu haben. Dieser Umstand sorgte für Spekulationen.

Kasım: Das wurde falsch dargestellt. In der betreffenden Region in der Provinz Ar-Raqqah wird nach wie vor gekämpft. Daher kann man nachts vom türkischen Akçakale aus auch die Kämpfe und Artillerieeinschläge sehen. Wir reden hier immerhin von einer Entfernung von nur sechs Kilometern, da ist es leider nicht unwahrscheinlich, dass Granaten auf türkisches Territorium niedergehen.

derStandard.at: Wo sehen Sie die Rolle der kurdisch-syrischen Partei der demokratischen Union im Konflikt zwischen den beiden Nachbarstaaten? Die PYD soll ja einige Grenzorte zur Türkei unter ihre Kontrolle gebracht haben und der türkisch-kurdischen PKK nahestehen.

Kasım: Ich denke, man überschätzt die Rolle der PYD. Die PYD hat einige kleinere Orte, die mehrheitlich kurdisch bewohnt sind, von Assad-Truppen übernommen, hat sich aber ohnehin entschlossen, neutral zu bleiben und nicht in den Konflikt einzugreifen. Die PYD wird dann eine Rolle spielen, wenn Assad gestürzt ist und es eine Nachkriegsordnung zu etablieren gilt.

derStandard.at: Das türkische Parlament gab grünes Licht für die Ausweitung der Interventionserlaubnis für die türkische Armee im nahen Ausland. Wird eine solch parlamentarische Erlaubnis direkt zu einem Krieg führen?

Kasım: Nein, auf keinen Fall, denn diese Erlaubnis, die jährlich vom türkischen Parlament erneuert werden muss, gibt es in dieser Form bereits für den Irak, und mit dem Irak steht man ja auch nicht im Krieg. Diese parlamentarische Erlaubnis gestattet es im Grund nur, dass man in Fällen von Kriegen und Autoritätsverlusten in Nachbarstaaten Schritte unternehmen darf, um die Sicherheit der Türkei und ihrer Bürger zu gewährleisten. Wenn also diese Erlaubnis vom türkischen Parlament auf Syrien ausgeweitet wurde, dann bedeutet das nicht, dass die türkische Armee die syrische Armee angreifen wird. Die Türkei wird nur sicherstellen, dass Gefahren für das türkische Territorium grenznah unterbunden werden können.

derStandard.at: Warum sind die größte türkische Oppositionspartei - die kemalistische Volkspartei CHP - und auch die Kurdenpartei BDP gegen eine parlamentarische Erlaubnis für die türkische Armee in puncto Syrien?

Kasım: Das muss man getrennt behandeln: Die CHP sieht in dieser "Erlaubnis" die Gefahr, dass man sich damit auf Seiten der angeblich islamistisch motivierten Oppositionellen in Syrien stellen würde und quasi für diese aktiv Partei ergreift. Die BDP hingegen ist aus den gleichen Gründen gegen ein militärisches Engagement der Türkei innerhalb der syrischen Grenzen wie sie auch gegen ein Engagement der Türkei im Nordirak ist. Es geht hierbei um politische Bündnisse zwischen einzelnen Kurdenfraktionen über die Grenzen hinweg: So wie der syrisch-kurdischen PYD sagt man auch der BDP eine ideologische Nähe zur militanten türkisch-kurdischen PKK nach.

derStandard.at: Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich spontan für einen Türkeibesuch im November angekündigt. Wird die Türkei Russland überzeugen können, nicht weiter UN-Resolutionen bezüglich Syrien zu blockieren?

Kasım: Nun ja, die Türkei und Russland sind wirtschaftlich zwar eng verflochten, doch haben sie politisch wenig Verbindendes und Gemeinsames. Daher wäre es eine gute Gelegenheit, um auch politisch miteinander zu kooperieren. Denn auch wenn Russland Assad unterstützt, ist es dabei nicht so engagiert wie etwa der Iran. Ich denke, dass die Russen ihre Interessen wahren wollen und insbesondere ihre Marinebasis dort. So lange man ihnen ihren Stützpunkt dort lässt, werden sie auch ein Syrien ohne Assad akzeptieren können. Ich denke nicht, dass Russland für Assad in den Krieg ziehen würde.

derStandard.at: Katar und Saudi Arabien führen das Lager der Assad-Gegner innerhalb der Arabischen Liga an. Wie schätzen sie die Pläne einer rein arabischen Intervention in Syrien ein und was wäre die Rolle der Türkei in diesem Szenario?

Kasım: Man muss die begrenzten militärischen Kapazitäten der Saudis und Kataris sehen. Sie haben viel diplomatisches Gewicht, das sie auch eingesetzt haben, um Assad zu isolieren, aber ich sehe es als nicht wahrscheinlich an, dass man eine solche arabische Koalition zusammenbrächte. Wenn es zu einem militärischen Engagement kommen sollte, dann nur mithilfe der UNO, der NATO oder der westlichen Staaten. Ich denke, das kritische Datum hierbei sind die amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November: Sobald diese vorüber sind, erwarte ich eine ernsthafte Lösung für das Syrienproblem. (Rusen Timur Aksak, derStandard.at, 4.10.2012)