Tom Scheutzow, Ex-Chrysler-Arbeiter, vor den Resten seiner Fabrikhalle in Twinsburg, Ohio.

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Nichtamerikanische Autos sind unerwünscht.

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Es sieht aus, als hätte die Erde gebebt an der Chamberlain Road. Zwei Bagger schaufeln sich noch durch traurige Trümmerreste, und wo früher die Autopressen standen, ragen halb demolierte Stützpfeiler wie übergroße kariöse Zähne aus dem Kellergeschoss. In einer Baracke, die einmal Teil des Verwaltungstrakts gewesen sein muss, geht der Blick durch leere Fensterhöhlen auf verstaubte Relikte, die kein Auktionator mehr unter den Hammer zu bringen wagte - alte Telefone, verbeulte Metallaktenschränke, ein Handbuch von Honeywell fürs Bedienen der Heizanlage.

Die Erde hat tatsächlich gebebt an der Chamberlain Road in Twinsburg, Ohio, nur dass es eine ökonomische Erschütterung war. Die riesige Fabrikhalle, in der Chrysler Blech zu Türen, Kotflügeln und Kofferraumklappen pressen ließ, im Zuge der Autokrise wurde sie überflüssig. 1957, als das Werk eingeweiht wurde, war Twinsburg ein Dorf gewesen. Erst der Chrysler-Konzern ließ es zur Kleinstadt wachsen, von 3000 auf 18.000 Bewohner.

Tom Scheutzow verbrachte praktisch sein gesamtes Berufsleben im Lärm der Pressen. Die Arbeit war hart, zugleich bedeutete sie Sicherheit, die Sicherheit einer großen Familie. Dann kam der 30. April 2009, der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Am Neunundzwanzigsten noch hatte Präsident Barack Obama von der Rettung des Werkes gesprochen, weil die Arbeiter Abstriche bei Betriebsrenten und Sozialleistungen hinnahmen. Am Dreißigsten bekamen sie den pink slip, die Entlassungspapiere.

"China, das war schon ein Schlag in die Magengrube"

 

Das kanadische Unternehmen Maynards, spezialisiert auf Firmenabwicklungen, zahlte 46 Millionen Dollar für die komplette Halle und verhökerte die dazugehörigen Maschinen. Die hochmodernen Autopressen gingen nach Mexiko, Südkorea und ausgerechnet nach China, in das Land, in dessen Aufstieg viele Amerikaner die Ursache ihres Dilemmas sehen. "China, das war schon ein Schlag in die Magengrube", erinnert sich Larry Finch, der Planungsdirektor Twinsburgs.

Finchs Job ist es, die Brache an der Chamberlain Road wieder mit Leben zu füllen. Einen schönen Namen hat er bereits für den künftigen Businesspark, Corner Stone, Eckstein. Zwölf Mittelständler hofft er anzusiedeln, nicht zuletzt durch Steuervorteile, einen Abschlag von 50 Prozent auf die Grundsteuer. Einer hat bisher zugesagt, ein Lieferant von Fertigpizza. Der Staat Ohio überwies fünf Millionen Dollar für die umweltgerechte Entsorgung der Chrysler-Schadstoffe. Vom Bund in Washington kamen 143.000 Dollar, für eine Studie.

Schon die bescheidene Summe genügte, um die Tea Party auf die Barrikaden zu treiben: Allein der Ansatz staatlicher Förderung ist den Anhängern der reinen Kapitalismuslehre suspekt. "Wir kriegen es trotz der politischen Spiegelfechtereien hin", sagt Finch, der Pragmatiker, und skizziert das Bild einer Stadt, die sich nicht auf einen Giganten wie Chrysler stützt, sondern auf eine breite Palette, von der Medizintechnik-Filiale bis hin zur Cola-Abfüllanlage. "Die Krise ist unsere Chance."

Dabei bündeln sich in Twinsburg all die Probleme, die den Rust Belt, den Rostgürtel der Old Economy, erfasst haben. Nach dem Ende der Schwerindustrie setzte ein zweiter Exodus ein, der Auszug der verarbeitenden Industrie.

Zarter Silberstreif

1990 war noch rund eine Million Menschen in den Fabriken Ohios beschäftigt, im November 2009 nur 609.900. Seitdem sieht Amy Hanauer, Direktorin des Politikinstituts "Policy Matters Ohio", einen zarten Silberstreif. Seit der Talsohle sind netto 55.000 Industriearbeitsplätze hinzugekommen. Es ist ein Trend, den Obama stets beschwört, zum Beweis der Wende. "Die Jobs, die wir schaffen, werden schlechter bezahlt als die Jobs, die wir verlieren", dämpft Hanauer. Amerika als Billigproduzent, läuft es darauf hinaus?

Tom Scheutzow hat erlebt, wie hart ein Abstieg sein kann. Nach der Entlassung bewarb er sich bei Home Depot, einer Baumarktkette. Auf einem Fragebogen sollte er seine Gehaltsvorstellungen notieren. 14 Dollar Stundenlohn gab er an, weniger als die Hälfte der 33 Dollar, die er bei Chrysler verdiente. Genommen wurde er für acht Dollar und fünf Cent.

Ihren drei Kindern konnten die Scheutzows das Studium finanzieren, mit Toms Chrysler-Gehalt war das zu schaffen. Trotz Uni-Diplom kommt keiner der drei auch nur annähernd auf das Gehalt, das ihr Vater früher erhielt. Vielleicht liegt es an der Generationenerfahrung, dass Scheutzow auf die Frage nach der Lage der Nation sagt: "Tja, Amerika rutscht wohl immer noch nach unten".

Missbilligend beobachtet er, wie sich Demokraten und Republikaner ineinander verbeißen, "jede Seite hat nur noch ihre eigene Agenda im Sinn, dabei müsste es doch um meine Agenda gehen". Bei der Präsidentenwahl 1984 stimmte er für Ronald Reagan, 2008 sympathisierte er mit John McCain, ehe McCain Sarah Palin ins Boot holte und Scheutzow zu Obama überschwenkte. Reagan-Demokraten nennt man Wähler wie Scheutzow. Es sind Unabhängige, um deren Gunst die Kandidaten buhlen, zumal in Ohio, einem "Wetterfahnenstaat", der zuverlässig die politische Windrichtung anzeigt und regelmäßig das Votum entscheidet.

Bruce Baumhower sitzt hinterm Chefschreibtisch eines Gewerkschaftslokals, im Local 12 der Union of Automobile Workers. Hier waren die Arbeiter organisiert, die ab 1941 für Willys-Overland, den Vorgänger Chryslers, den Jeep montierten. Von der alten Fabrik ist nicht mehr übrig als ein einsamer Schornstein, dafür gibt es zwei neue, eingeweiht in den Nullerjahren, und im Jänner soll ein brandneuer Jeep Liberty vorgestellt werden.

Unter den kranken Big Three, den Autokonzernen Detroits, ging es Chrysler am allerschlechtesten. Heute, nach missglückter Ehe mit Daimler, nach dem abgewendeten Kollaps, mittlerweile verheiratet mit Fiat, zitiert Baumhower leise lächelnd das Wort vom Totgesagten, der länger lebt.

Die Hälfte des Lohns

Die Lieblingsvokabeln von Cory Bond heißen Comeback und "get up", Aufstehen. Der junge Afroamerikaner ist Autobauer in dritter Generation. Im Dezember 2009 fing er bei Chrysler in Toledo an, gut ein halbes Jahr, nachdem Tom Scheutzow in Twinsburg den pink slip bekam. Für 15 Dollar die Stunde, die Hälfte dessen, was vor dem Absturz gezahlt wurde.

Cory beschwört das halbvolle Glas, nicht das halbleere. Wenn das Geschäft mit dem Jeep floriert, glaubt er, steigen vielleicht auch die Löhne, nie wieder auf frühere Höhen, aber allemal besser als bei Home Depot oder McDonald's. Cory Bond hat sich angewöhnt, die amerikanische Achterbahn als Normalzustand zu sehen. "Was oben ist, muss irgendwann fallen. Bei Chrysler sind wir gefallen. Damit musst du fertigwerden. So ist das Leben nun mal." (Frank Herrmann, DER STANDARD, 2.10.2012)