Eigensinnige Protagonistin auf der Suche nach den eigenen Wurzeln: Anna Fischer als Sita in "Die Lebenden" von Barbara Albert, der im Wettbewerb von San Sebastián läuft.

Foto: Festival San Sebastian

Spanien erlebt gerade einen bewegten Herbst, der auch das 60. Filmfestival von San Sebastián nicht unberührt lässt. Für Mittwoch haben die großen Gewerkschaften einen Generalstreik angekündigt, um gegen den rigiden Sparkurs der Regierung zu protestieren. Das Festival erklärte sich solidarisch und beschränkt sein Angebot an diesem Tag auf jenes im massiven Zentralgebäude, das wie eine Glasfestung zwischen Atlantik und Altstadt, seltsam abgehoben vom Rest, erscheint.

In den Filmen selbst geht es dann mehr um vergangene Krisen und Verwerfungen. Das Kino braucht Zeit, um neue Perspektive zu finden. Dies zeigt sich in San Sebastián an ganz unterschiedlichen Fronten: Sei es, dass Ben Affleck für "Argo" das Geiseldrama im Iran von 1979 in einen sympathisch altmodischen Politthriller überführt; sei es, dass ein Veteran des engagierten Polit-Kinos, Constantin Costa-Gavras, mit "Le Capital" noch die inneren Abläufe einer gefährdeten Investment-Bank belichten wird.

Mauer des Schweigens

Auch die österreichischische Filmemacherin Barbara Albert verortet "Die Lebenden", ihren ersten Film seit sechs Jahren, in größeren historischen Zusammenhängen, um über den veränderten Umgang nachrückender Generationen mit Schuld zu erzählen. Anders als in früheren Arbeiten hat sie sich diesmal mit Sita (Anna Fischer) für eine zentrale Heldin entschieden. Die Studentin beginnt sich für die wechselvolle Geschichte ihrer Familie zu interessieren, als sie auf ein altes Foto ihres Großvaters stößt, auf dem dieser in einer SS-Uniform abgebildet ist. Da sie bei ihren Verwandten auf eine Mauer des Schweigens trifft, beginnt sie auf eigene Faust zu recherchieren - die Spuren führen nach Warschau und von dort nach Auschwitz.

Albert entwirft diese Suche nach den Wurzeln jedoch weniger geradlinig, als diese Zusammenfassung vermuten lässt. Echos und Spiegelungen rund um Fragen von Herkunft, Zugehörigkeit und Identität sind im Film an vielen Stellen vorhanden. Sita ist eine eigensinnige Frau, die auf Menschen offen zugeht und sich gerne treiben lässt. Ihre Recherche, die sie durch mehrere Länder führt, ist weniger Vergangenheitsbewältigung als der Versuch, die eigene Migrationsgeschichte zu klären - als Nachkomme von Sudetendeutschen muss sie nun erkennen, dass Angehörige ihrer Familie weniger Opfer als Täter waren.

Es ist etwas viel Ballast, den Albert ihrem Film da aufbürdet. Komplizierte, kaum zu vereinfachende historische Konstellationen muss der Film verdichten, dies führt zu einigen Szenen, die allzu demonstrativen Charakter haben oder Geschichte zum dramatischen Beweisstück umfunktionieren. "Die Lebenden" ist zwar rhythmisch und vorwärtstreibend inszeniert, aber er vermag seinen Blick zu selten von dem großen Sujet zu lösen. Die stärksten Momente sind jene, in denen er seiner Heldin mit dem vererbten Loch im Herzen ein wenig Raum zum Atmen lässt - in Passagen, die die Rastlose in Bewegung zeigen.

Ben Affleck wählt bewährten Weg

Ben Affleck wählt in seiner dritten Regiearbeit einen vergleichsweise genrebewährten Weg, um an eine der bizarreren Rettungsaktionen in der Geschichte der CIA zu erinnern. Um Mitarbeiter der US-Botschaft im Iran zu befreien, die in jener Kanadas untergetaucht sind, ersinnt Agent Tony Mendez (Affleck) einen ungewöhnlichen Plan. Ausgerechnet als Hollywood-Filmteam getarnt, das für eine skurrile Science-Fiction-Produktion vor Ort recherchiert, will er die Gruppe aus dem postrevolutionären, entsprechend argwöhnischen Iran in die Freiheit führen.

Das Tarnspiel wird unter Afflecks Regie zwar "bigger than life", aber durchaus mit feinem Sinn für historische Genauigkeit in Szene gesetzt - die großartigen 1970er-Bärte und -Frisuren sind, wie man dem Abspann entnehmen kann, sehr eng an die historischen Vorbilder angelehnt. Darsteller wie John Goodman und Alan Arkin, die zwei alte Filmhaudegen verkörpern, erinnern mit ausgelassenem Spiel an fast vergessene Qualitäten des Unterhaltungskinos, während die innere Logistik der Befreiungsaktion hochspannende Szenen generiert. In denen ist dann erfrischend wenig von Patriotismus, aber dafür viel von Zivilcourage die Rede. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 26.9.2012)