-> Ansichtssache zur Reise

Foto: Peter Knauseder

Von Nairobi aus fahre ich weiter durch das fruchtbare kenianische Hochland Richtung Norden nach Isiolo. Die Straßen sind in perfektem Zustand, ich habe ausreichend Platz und wir kommen schnell voran, sehr angenehm. Deshalb habe ich später, als wir im staubigen und heißen Isiolo ankommen, vermutlich auch das Gefühl, für diesen Tag noch nicht genug gelitten zu haben, so dass ich sofort meine Weiterreise organisiere.

Da die Strecke bis zur äthiopischen Grenze nicht geteert und auch sonst in einem schlechten Zustand ist, wird sie hauptsächlich von Trucks und Geländewagen bedient. Ich bekomme einen Platz auf der Ladefläche eines Land Rover, und als endlich genügend Gepäckstücke und Passagiere aufgeladen sind, fahren wir am späten Nachmittag los. Mir wird angeboten, mir für etwa drei Euro den Sitz neben dem Fahrer zu erkaufen, doch ich lehne dankend ab. Eine sehr, sehr dumme Entscheidung!

Verzweifelte Primzahlen

Die ersten etwa 100 Kilometer sind überraschenderweise geteert, doch meine "Enttäuschung" währt nur kurz. Die Straße danach ist mit Schlaglöchern übersät, der aufgewirbelte rote Staub erschwert das Atmen, wir können unsere Augen kaum mehr öffnen, und ein Ende ist einfach nicht in Sicht. Ich versuche mich irgendwie abzulenken, doch nichts hilft, in meiner Verzweiflung gehe ich in Gedanken sogar die Primzahlen durch. Nach sechs Stunden hat dieser Albtraum schließlich ein Ende und wir erreichen Marsarbit, wo ich einige Tage bleiben will. Mein Gewand, mein Gesicht, alles ist von einer dicken roten Staubschicht überzogen.

Da die Grenze wegen Stammeskämpfen in der Region in den letzten Tagen geschlossen war und erst seit heute wieder offen ist, beschließe ich, gleich am nächsten Tag weiterzufahren, da ja niemand wissen kann, ob und wann diese Unruhen wieder aufflammen werden. Nach ein paar Stunden Schlaf bin ich wieder unterwegs. Die Fahrt durch die nahezu vegetationslose, mit schwarzen Steinen übersäte Ebene in dem zum Bus umgebauten Lastwagen fühlt sich an wie eine Erholungsreise.

Da es in dieser Gebend immer wieder zu Überfällen kommt, werden wir von zwei Soldaten begleitet. Ich zweifle zwar etwas an der Wehrhaftigkeit dieser etwas älteren Männer mit ihren museumsreifen Karabinern, doch ich weiß die Geste zu würdigen. Am Horizont ziehen währenddessen Nomaden mit ihren Kamelen vorbei. 

Moyale macht speziell auf der äthiopischen Seite einen sehr entspannten Eindruck, es ist schwer zu glauben, dass sich hier noch vor kurzer Zeit Leute auf den Straßen bekämpft haben. Kinder treiben Esel mit Brennholz oder Wasserkanistern durch die Straßen, Männer sitzen Kat kauend am Straßenrand, das Leben geht seinen gewohnten Gang.

Mit einem Minibus fahre ich nach einem Tag Aufenthalt über Nacht weiter nach Addis Abeba. Das ist zwar etwas teurer, aber mit einem normalen Bus dauert ein solches Unternehmen zwei Tage.

Baustelle Addis Abeba

Die Stadt stürzt mich in ein Gefühlschaos. Die Straßenkinder sind teilweise derartig aufdringlich und aggressiv, dass ich meine ganze Menschenliebe aufbringen muss, um ihre Situation zu sehen und nicht selbst aggressiv zu werden. Einmal werde ich derartig umringt, dass ein resoluter älterer Herr mit seinem Gehstock anrückt, um mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Im Anschluss lädt er mich noch in ein Café auf einen Macchiato ein - eine Hinterlassenschaft der Italiener.

In Addis Abeba wird gerade massiv in die Infrastruktur investiert, vieles ist noch Provisorium, Straßen sind aufgegraben, überall Baugerüste, was alles nicht wirklich zu einem schönen Stadtbild beiträgt. An den größeren Plätzen lungern oft junge Männer herum, die mit den unterschiedlichsten Tricks versuchen, unbedarfte Touristen in Situationen zu bringen, die kaum positiv für sie enden werden. 

Auf der anderen Seite treffe ich viele freundliche und interessante Menschen, die sich einfach nur mit mir bei einem Kaffee oder auch dem einen oder anderen Blatt Kat (die Blätter werden gekaut - sie verursachen bei mir zwar keinen Rauschzustand, dafür aber leichte Bauchschmerzen) unterhalten wollen. Die Schwierigkeit besteht nur darin, diese beiden Gruppen auseinanderzuhalten.

Während meiner Zeit in Addis Abeba findet auch das Begräbnis des Premierministers Meles Zenawi statt, der das Land über 20 Jahre lang regiert hatte. Auch wenn Äthiopien nicht unbedingt eine "harte" Diktatur war und ist, so ist es sicher noch weniger eine "richtige" Demokratie, und Proteste der Opposition wurden etwa 2005 blutig niedergeschlagen. Die Leute, mit denen ich mich darüber etwas offener unterhalte, leugnen dies auch nicht, doch betonen sie die ökonomischen Verbesserungen und geben zu bedenken, dass Pressefreiheit und Wahrung aller Menschenrechte schlichtweg nicht an erster Stelle der Dinge stünden, die Äthiopien benötige.

Die Ruhe des Kat in Harar

Ich fahre weiter Richtung Harar im Osten Äthiopiens. Die Landschaft erstrahlt nun zum Ende der Regenzeit in satten Grüntönen, unterbrochen nur von dem Schwarz frisch "gepflügter" Felder und dem Grau überschwemmter Ebenen. Dazwischen kleine Dörfer mit strohgedeckten Häusern, neben den Straßen grasende Ziegen- und Rinderherden, und hin und wieder auch ein paar Kamele, die irgendwie nicht in diese Gegend zu passen scheinen.

Die Stadt ist ein altes muslimisches Zentrum, das erst spät unter die Herrschaft Äthiopiens gekommen ist. Abgesehen von seinem kulturellen Reichtum ist Harar auch für seine Hyänen bekannt. Sie streunen nachts durch die Straßen und wühlen im Müll, am Abend kann man sie unter Anleitung des "Hyänenmanns" füttern, und wer unbedingt will, darf sie auch streicheln.

Außerhalb der alten Stadtmauer ist Harar eine relative normale und mehr oder weniger "moderne" äthiopische Stadt, doch innerhalb stört fast nichts den Eindruck, in der Zeit zurückgereist zu sein. Am Markt verkaufen in bunte Tücher gehüllte Frauen Gewürze, Weihrauch und vor allem das aus der Danakali-Ebene von Karawanen angelieferte Salz. Handwerker sitzen arbeitend vor ihren Geschäften, es duftet nach Kaffee, in den engen Gassen wird gekocht und gegessen, Esel dösen in der Sonne.

Herrscht am Morgen noch sehr geschäftiges Treiben, so erlahmt ab dem frühen Nachmittag unter dem Einfluss des Kat das Leben immer mehr, um dann am Abend wieder Geschwindigkeit aufzunehmen.

Jahreswechsel bei den Felsenkirchen

Wieder in Addis Abeba verliere im mich im Chaos des Merkatos, angeblich der größte Markt Afrikas, wobei sich das natürlich auch leicht behaupten lässt, wenn etwas keine festen Grenzen hat. Ich entdecke jetzt auch einige nette Flecken in dieser Stadt, am Ende mag ich sie sogar schon fast.

Der 13. Monat des Jahres 2004 neigt sich schon bald dem Ende zu. Das neue Jahr steht vor der Tür. Die damit verbundenen Feierlichkeiten will ich in Lalibela verbringen, das für seine in den Fels gehauenen Kirchen aus dem 11. und 12. Jahrhundert bekannt ist. Die Fahrt dorthin gestaltet sich etwas schwierig, da keine Bustickets mehr zu bekommen sind und ich mich so mit Minibussen von Stadt zu Stadt weiterarbeiten muss. Die Landschaft entschädigt für vieles, und selbst ohne die spektakulären Gotteshäuser würde sich die Fahrt nach Lalibela lohnen. Das äthiopische Hochland ist von einem Blumenteppich bedeckt, an den Berghängen ziehen sich ausgedehnte Felder mit Tef (ein einheimisches Getreide, das für das Nationalgericht Injera benötigt wird) terassenförmig nach oben, es ist wunderschön.

Ich hatte erwartet, Lalibela voller Touristen zu finden, doch bin ich lange Zeit der einzige Ausländer in den Kirchen, die nicht im klassischen Sinne gebaut wurden, sondern nur von dem sie außen und innen umgebenden Fels befreit wurden. Manche sind geschlossen und werden mir erst durch die vorbeieilenden Priester aufgeschlossen, in anderen sitzen Gläubige in stiller Meditation auf den ausgelegten Teppichen.

Am Neujahrstag bin ich schon um 4 Uhr in der Früh bei der Beta-Maryam-Kirche. Ganz in Weiß gekleidete Priester stehen am Vorplatz und zitieren (vermutlich) aus der Bibel, die Luft ist weihrauchgeschwängert, es wird gesungen und getrommelt, Gläubige holen sich das heilige Wasser für zu Hause, Pilger knien vor dem Eingang und beten inbrünstig, es hat etwas Mystisches. Ich drücke mich in eine Nische und versuche die Zeremonie möglichst wenig zu stören.

Als ich am späten Nachmittag wiederkomme, treffe ich dann doch einige Touristen, aber immer noch überraschend wenige. Einerseits ist gerade Nebensaison, und andererseits haben viele wohl auch wegen der befürchteten Unruhen nach dem Tod Zenawis ihre Reisen wieder storniert.

Ich erkunde noch einen Tag lang die Gegend und fahre dann weiter nach Bahir Dar am Tana-See, aus dem der Blaue Nil "entspringt". (Peter Knauseder, derStandard.at, 20.9.2012)