Aus der Traum. Das lettische Gehaltsniveau ist in den letzten drei Jahren drastisch gesunken.

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Dieser Bericht wurde im Rahmen von eurotours 2012 erstellt. eurotours ist ein Projekt der Europapartnerschaft, finanziert aus Gemeinschaftsmitteln der EU.

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Das Träumen hat sie verlernt. Olga ist angekommen, in der Realität und am lettischen Arbeitsamt. 48 Jahre ist die blonde Frau und ausgebildete Journalistin. Die deutsche Sprache beherrscht sie neben Lettisch und Russisch fließend. Sie nimmt im Warteraum auf einem grauen Sessel Platz, beginnt ein Gespräch mit einer Sekretärin und hat alle Mühe, die Fassung zu wahren.

Vor der Krise – da war alles besser. Sie übersetzte und schrieb als freie Arbeitnehmerin Artikel für die russisch-deutsche Zeitung Semljaki. "Ich konnte bequem von Riga aus arbeiten und hatte ein ansprechendes Gehalt", erzählt Olga. Doch mit dem Konkurs der Zeitung verlor sie ihre Arbeitsstelle. Das war 2011. Die Wirtschaftskrise hatte bereits ganz Lettland erfasst. Als Ausweg sah Olga nur noch die Arbeitssuche im Ausland.

Von der Journalistin zur Pflegehelferin. Für Olga ging es seit der Wirtschaftskrise stetig bergab.
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So wie Olga sind derzeit viele Letten auf der Suche nach einem besseren Leben und Gehalt jenseits der Grenzen. Denn ihre Lebenswirklichkeit stimmt nicht mit den positiven Trends der Wirtschaftsdaten überein. Das monatliche Durchschnittsgehalt der Bevölkerung liegt derzeit bei nur 649 Euro brutto, das Mindestgehalt bei 287 Euro brutto. Die Einkommenssteuer von 25 Prozent und Sozialversicherungsabgaben verringern das Einkommen noch weiter. Davon müssen dann Mieten bezahlt und Lebensmittel angeschafft werden, die nicht wesentlich unter dem österreichischen Preisniveau liegen. Ein Liter Milch kostet 0,56 Euro, Käse zwischen vier und sieben Euro pro Kilo, für eine Hauptspeise im Restaurant zahlt man zwischen sechs und 21 Euro.

"Wir alle leben von einem Monat zum nächsten", sagt Liga Baufale, Beraterin des EU-weiten Jobnetzwerkes EURES in Riga. Sie sitzt gemeinsam mit ihrer Kollegin abgeschottet von den überfüllten Warteräumen in einem winzigen Büro. Im Bücherregal reiht sich ein Ordner an den nächsten. Von "Austrija" bis "Zviedrija" (Schweden); Staaten, deren Arbeitsmärkte den Letten seit ihrem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 offen stehen.

Von 2,2 Millionen auf 2 Millionen in 2 Jahren

Ein Ausweg, den im krisengeschüttelten Land immer mehr in Erwägung ziehen. So viele, dass es für Lettland existenzbedrohend wird und Liga Baufale mit den Beratungen nicht mehr nachkommt. Fast 13.000 Anfragen von potentiellen Auswanderern, die sich über die sozialrechtlichen und arbeitsmarktrechtlichen Bedingungen anderswo informieren wollten, hatten die EURES-Mitarbeiter im vergangenen Jahr zu bearbeiten. Das große Interesse blieb nicht wirkungslos: Zehn Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter haben Lettland seit Krisenbeginn im Jahr 2008 verlassen. Den Großteil zog es nach Großbritannien, Norwegen oder Deutschland. Von 2,2 Millionen schrumpften die Letten innerhalb der letzten zwei Jahre auf zwei Millionen. Die tatsächliche Einwohnerzahl ist noch niedriger, da nicht alle Daten erhoben und ausgewertet werden. "Neben der Emigration ist es auch die niedrige Geburtenrate und Sterberate, die uns derzeit Kopfzerbrechen bereitet. Die lettische Gesellschaft altert aus diesem Grund viel schneller, als anderswo in Europa üblich", erklärt der Demograph Ilmars Mezs (siehe Interview). Ein demographisches Desaster zeichnet sich ab. Schon jetzt gibt es einzelne Branchen, die keine entsprechend ausgebildeten Arbeitskräfte mehr finden.

Die Letten verbergen ihre Armut gut. Riga überrascht Besucher auf den ersten Blick mit jugendlichem Flair und Aufbruchsstimmung.
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Durch die niedrigen Löhne ebbt die Emigrationswelle nicht ab. Wer jung und gut ausgebildet ist, versucht, schleunigst das Weite zu suchen, in dem Wissen, dass anderswo ein besserer Lebensstandard leistbar ist. "Natürlich, ich will irgendwann gut verdienen und nicht im Existenzminimum verharren", sagt Yeva. Sie ist 18 Jahre alt, gerade mit der Schule fertig geworden und will nun unbedingt nach Österreich. "Ich werde hoffentlich einen Job als Kellnerin finden." Warum will sie schon in so jungen Jahren unbedingt weg? "Ich hasse das Leben hier in Lettland."

Von dieser Verzweiflung in der Bevölkerung ist international kaum etwas zu vernehmen. In den Medien wird Lettlands "Wiederauferstehung" gefeiert und die lettische Regierung mit Lobeshymnen überhäuft. Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), hat Lettland in aller Öffentlichkeit zum Vorzeigemodell für die Bewältigung der Wirtschaftskrise auserkoren und bezeichnete die politischen Maßnahmen als "Erfolgsstory, die anderen europäischen Staatsmännern eine Inspiration sein könnte."

Lob von der EU und dem IWF

Dieser "Erfolgsstory" ging eine Achterbahnfahrt voran. Den wirtschaftlichen Boom-Jahren 2006 und 2007, in denen investiert wurde und die Gehälter explodierten, folgte der tiefe Absturz durch die Wirtschafts- und Bankenkrise. Das Bruttoinlandsprodukt Lettlands fiel innerhalb von zwei Jahren um kritische 25 Prozent. Der IWF musste mit Geld aushelfen.

Das Rezept der Regierung, um die Krise zu beenden: eisernes Sparen, Kürzung von Arbeitsplätzen und eine Geldentwertung, die zur Folge hatte, dass viele Gehälter binnen kürzester Zeit um 50 Prozent sanken. Der LATS – die lettische Währung – blieb entgegen vieler Empfehlungen an den Euro gekoppelt, auch weil die Letten nach wie vor einen Euro-Beitritt im Jahr 2014 anstreben.

"Das war unsere einzige Option in dieser Situation. Sonst würden wir heute nicht so gut dastehen", sagt Arvils Aseradens, Berater der Sozialministerin und ehemaliger Geschäftsführer der reichweitenstärksten lettischen Tageszeitung "Diena". Und freilich, die Wirtschaftsdaten künden auf den ersten Blick davon, dass Lettland etwas richtig gemacht zu haben scheint. Die Arbeitslosenquote liegt nur noch bei 11,3 Prozent, und Lettland verzeichnet ein jährliches BIP-Wachstum zwischen drei und sechs Prozent.

Mihails Hazans, Professor für Ökonometrie an der University of Latvia, findet es hingegen befremdlich von einem Erfolg im Falle Lettlands zu sprechen. "Es gibt überhaupt nichts, worauf wir stolz sein können, wenn wir uns die soziale Entwicklung der letzten drei Jahre ansehen. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten scheinen auf den ersten Blick positiv, aber man muss bedenken, dass wir von einem sehr niedrigen Level gestartet sind." Die Arbeitslosenquote sei zu einem Gutteil auch deshalb gesunken, weil so viele Arbeitskräfte auswandern.

Im Gegensatz zu den südlichen EU-Staaten scheinen die Letten die harten Einschnitte seit 2008 mit Fassung zu tragen. Von Demonstrationen und öffentlichen Unmutsäußerungen keine Spur. "Das ist Teil unserer Mentalität. Die Zeit der sowjetischen Besetzung prägt uns auch heute. Wenn damals jemand Fragen stellte oder kritische Anmerkungen machte, war er automatisch verdächtig", erklärt der Migrationsexperte Ilmars Mezs.

Protest mit den Füßen

Als einzige – und vielleicht sogar radikalste Protestform – bleibt die Emigration. "Wir protestieren mit unseren Füßen, nicht mit unserem Mund", so drückt es Karlis Pots vom Latvian Institute aus. Die arbeitslose Journalistin Olga demonstrierte ebenfalls so und beschloss 2011, als Pflegehelferin in einem deutschen Seniorenheim ihr Geld zu verdienen.

"In Lettland hätte ich gar nicht als Altenpflegerin arbeiten dürfen. Man benötigt dafür eine spezielle Ausbildung", sagt sie. In Deutschland hingegen war sie als billige Arbeitskraft willkommen. Zunächst verdiente sie 950 Euro, später nur noch 850 Euro. Der Chef versprach, die Steuern ordnungsgemäß für sie abzuführen. Ob er das tatsächlich tat, bezweifelt sie mittlerweile. Doch es kam noch schlimmer. Nach einem Heimaturlaub wurde ihr die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz verweigert. Per E-mail wurde Olga gekündigt, mit der Begründung, ihr Deutsch sei zu schlecht. Auf ihr Hab und Gut, das sie am Arbeitsplatz vor ihrer Kündigung zurückließ, wartet Olga bis heute. Nur einer deutschen Freundin hat sie es zu verdanken, dass sie ihre Habseligkeiten vielleicht doch zurückzuerhalten wird: "Sie hat mir einen Anwalt gezahlt. "

Ilze Gornika und Liga Baufale haben sich trotz belastender Arbeit im Alltag den Humor bewahrt.
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Solche und ähnliche Geschichten bekommen die EURES-Beraterinnen Liga Baufale und Ilze Gornika tagtäglich zu hören. "Man muss sich davon auch abgrenzen können", sagt Liga und vergleicht ihren Job mit dem einer Psychologin. Oft hätten sie Klienten, die während der Gesprächen zu weinen beginnen oder aggressiv werden. "Sie sind natürlich auch wütend auf uns, weil sie glauben, dass wir als Staatsbedienstete von ihren Steuern leben", sagt Ilze. Tatsächlich leben aber auch die beiden am Existenzminimum. „Neue Kleidung kann ich mir fast nicht leisten. Wenn ich Kleidung kaufe, dann im Urlaub, wenn ich meinen Bruder und seine Familie in Großbritannien besuche." Vor ein paar Jahren noch hätten sie sich selbst zum Mittelstand gezählt. Mittlerweile bricht diese Klasse zusammen und verschmilzt mit der Unterschicht.

Einkaufen in den Markthallen von Riga bleibt den Touristen vorbehalten. Draußen stellen sich viele ältere Menschen bei der Verteilung billiger Lebensmittel an.
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Während in den frühen 90er-Jahren nur einzelne Familienangehörige ins Ausland gingen, um für ein paar Jahre Geld zu verdienen, übersiedeln mittlerweile auch immer mehr Kinder mit ihren Eltern. "Es gibt jetzt weniger Waisenkinder oder Kinder, die bei den Großeltern aufwachsen", erklärt Mihails Hazans. Welche psychische Belastung mit abrupten Ortswechseln in jungen Jahren aber verbunden sein kann, zeigt die tragische Geschichte eines 10-jährigen, die Ende August Lettland erschütterte. Der Sohn einer ausgewanderten Lettin wurde von dieser zum leiblichen Vater nach Lettland zurückgeschickt, weil sie mit einem anderen Mann eine neue Familie gegründet hatte. Kurz vor Schulbeginn beging der 10-jährige Selbstmord.

Task Force soll Auswanderer zurückholen

Junge Familien identfiziert Ilmars Mezs als jene Gruppe, die am stärksten unter den Sparmaßnahmen zu leiden hat: "Kindergeld und Karenzgeld wurden gekürzt, während die Pensionen von der Regierung gar nicht angetastet wurden." Der Grund dafür liegt eher im politischen Kalkül als in wirtschaftlichen Kalkulationen. "Junge Mütter gehen nicht wählen, Pensionisten hingegen schon", gibt Arvils Aseradens, Politiker der regierenden lettischen Partei "Einigkeit" zu.

Mittlerweile kommt aber auch die Regierung zur Einsicht, dass Lettland die Abwanderung aktiv bekämpfen muss und setzte deshalb vor wenigen Wochen eine eigene Task Force ein. Bisher versuchte man, die Diaspora über Netzwerke an das Land zu binden, ernannte etwa einen eigenen Botschafter für die Emigranten oder richtete Sonntagsschulen ein, in denen die lettische Kultur, Sprache und Geschichte unterrichtet wird. Das Parlament (Saeima) stimmt gerade über ein Gesetz ab, das die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen soll und somit auch Anreiz für viele Emigranten sein könnte, sich wieder einen lettischen Pass zuzulegen.

Für Olga kommt das alles zu spät. Auch wenn sie schon einmal eine herbe Enttäuschung erlebt hat, sieht sie Deutschland als einzige Überlebenschance. "Ich möchte noch besser Deutsch lernen, damit ich irgendwann in Riga als Fremdenführerin arbeiten kann", sagt sie. Ihre derzeitigen Jobaussichten sind trist. Sie kann wählen zwischen einer Stelle als Putzfrau oder Pflegerin. Eigentlich hat sie sich schon entschieden, denn im Pflegeheim müsste sie das Zimmer mit einer anderen Person teilen. "Dort bist du nie frei sondern 24 Stunden unter Beobachtung. Wie ein Sklave." (Teresa Eder/derStandard.at, 25.09.2012)