"Ich will Recht, ich will, dass die zur Verantwortung gezogen werden, die schuld sind am Tod unserer Kinder." Die 36-jährige Mutter redet sehr gefasst, vom Trauma erzählt sie wie eine Therapeutin - besser: wie eine Patientin, die sich selbst heilt.

Wie vielen Hinterbliebenen in der Stadt Ufa in der russischen Provinz Baschkirien sieht man auch Julia Fedotowa das Leiden äußerlich nicht an. Jeder hat mit dem Broterwerb zu tun, um die zu ernähren, die ihm geblieben sind. "Aber wir sind krank, das Nervensystem hat den Schmerz nicht ausgehalten." Julia nimmt seit einem Jahr Medikamente, andere müssen regelmäßig ins Krankenhaus, viele suchen psychologische Hilfe.

Vor einem Jahr, am 1. Juli 2002, ist ihre Tochter Sofija in den Tod gestürzt, ein Mädchen von 15 Jahren, unterwegs mit 44 Gleichaltrigen und 27 Erwachsenen an Bord in die Ferien nach Spanien, als die russische Tupolew-154 der Bashkirian Airlines mit einer DHL-Boeing 757 über dem deutschen Überlingen zusammenkrachte.

Sofort war Julia gemeinsam mit vielen anderen Hinterbliebenen an den Ort des Unfassbaren aufgebrochen. Wenn sie nun nach einem Jahr wieder mit 120 anderen Hinterbliebenen nach Überlingen fährt, so deshalb, um Blumen niederzulegen - "und um an der Absturzstelle weinen zu können". Nicht ihre Tochter, die mit den anderen Opfern in Ufa begraben liegt, brauche die Tränen, sagt Julia, die Hinterbliebenen bräuchten etwas, damit ihnen leichter wird.

Unschätzbare Hilfe

So viel wie möglich haben die deutschen Katastrophenhelfer geholfen. "Das Schönste nach der Tragödie ist der rege menschliche Austausch mit ihnen", wollen Julia und die Hinterbliebenen auch dafür in Deutschland danken. Die Hilfe sei unschätzbar, auch die materielle, geleistet von Deutschen, Russen und der Regierung in Baschkirien. Sie hätten das "zivilisierte Verhalten" an den Tag gelegt, das von offizieller Seite ausblieb, bricht die Empörung bei Julia durch.

Ein Jahr nach dem Unglück einigten sich Deutschland und die Schweiz am Freitag auf eine Pool-Lösung für einen Entschädigungsfonds. Zuletzt war eine Summe von 42,4 Millionen Euro im Gespräch. Von dem Flugsicherheitsunternehmen Skyguide, dessen Fehlaktionen zur Katastrophe führten, habe man namenlose Beileidkuverts erhalten, die nicht einmal eine Entschuldigung enthielten. "Am kränkendsten aber war zu hören, dass sich die Schweiz wohl anders verhalten hätte, wenn amerikanische Kinder abgestürzt wären."

Es ist nicht Hass, weswegen die Juristin Julia um die rechtliche Klärung und die Entschädigungszahlungen kämpft: "Für mich besteht das Andenken an Sofija nicht nur in den Tränen, sondern auch darin, ihre Würde zu verteidigen." Deshalb koordiniert sie die Selbsthilfegruppe der Hinterbliebenen.

Alles hat sich im vergangenen Jahr bei Julia geändert: Ängste, wie sie jeder hat, sind so gut wie verschwunden. "Wenn du das Schrecklichste erlebt hast - und der Tod des eigenen Kindes ist wohl das Schrecklichste -, dann befürchtest du nur noch wenig."

Geblieben sind ihr die Mutter und ihre siebenjährige Tochter Dina. Wie sehr Dina der Tod ihrer Schwester mitgenommen hat, kann Julia nur noch andeuten: "Darüber kann ich nicht einmal... Das ist nicht möglich..." (DER STANDARD, Printausgabe, 30.6.2003)