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Kinder mit geistiger Behinderung in einem Heim im russischen Troizkaja.

Foto: Reuters/Khasanov

"Behindert in Russland? Erschießen Sie sich!" Mit diesen Worten beschrieb der Schriftsteller Viktor Jerofejew im Jahr 2000 das Leben von Menschen mit Behinderung in Russland. Zwar hat sich die Situation in den letzten Jahren etwas gebessert, trotzdem landen Säuglinge mit Behinderung noch immer in Heimen und im Endeffekt in geschlossenen Anstalten. Falls sie doch bei ihren Eltern bleiben dürfen, so ist deren Leben von da an von alltäglichen Barrieren und Anfeindungen geprägt.

Die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung hat in Russland Tradition, sie reicht bis in die 1940er Jahre zurück. Rund 2,5 Millionen Invaliden kehrten damals von den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs in die Sowjetunion zurück. Anstatt aber als Helden gefeiert zu werden, wurden sie großteils aus der Öffentlichkeit entfernt. Menschen mit Behinderung passten nicht zum Image des Kriegsgewinners und auch nicht zum heraufbeschworenen Bild des starken Russen. Erst mit Michail Gorbatschows Perestroika in den 1980ern war es beispielsweise erlaubt, Menschen mit Behinderung im Fernsehen zu zeigen. Trotzdem blieb es ein Tabuthema für die Medien. Dafür brannte sich diese feindliche Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung ins Bewusstsein der russischen Bevölkerung.

Das schwere Erbe der Sowjetunion

Heutzutage kann es immer noch passieren, dass Menschen mit Behinderung der Zutritt in Restaurants oder Museen verwehrt wird. Man will anderen Gästen diesen Anblick einfach ersparen. Rollstuhlrampen bei öffentlichen Verkehrsmitteln sind weiterhin eine Seltenheit. Zwar gibt es in Großstädten soziale Taxis, um den Transport von Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. Allerdings sind die Ressourcen so stark limitiert, dass man Wochen warten muss, um ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt zu bekommen. Irina Jassina, Rollstuhlfahrerin und tragende Figur der Anti-Putin-Bewegung, stellte gegenüber dem "Spiegel" treffend fest: "Obwohl die Sowjetunion seit 20 Jahren zu Ende ist, tragen wir noch schwer an ihrem Erbe."

"Wozu? Die können doch sowieso nichts lernen." So oder so ähnlich lautet oft die Antwort, wenn man bei russischen Behörden um Unterstützung für Bildungseinrichtungen ansucht, die für Menschen mit Behinderung gedacht sind. Anne Hofinga kann davon ein ziemlich langes Lied singen. Die Lehrerin zog vor etwa 20 Jahren von Deutschland nach Moskau, um soziale Projekte deutscher NGOs aufzubauen und zu betreuen. Geht es um Kinder mit geistiger Behinderung, dann wird die Angelegenheit richtig unangenehm. "Wenn solche Initiativen auf staatliche Organe stoßen, dann wird man in einer Weise kalt abserviert, die man sich im Westen kaum vorstellen kann", so Hofinga, heute Vorstand der NGO "Russlandhilfe", im Gespräch mit derStandard.at. Und es wird noch einiges mehr unternommen, damit Einrichtungen dieser Art obsolet werden.

Anne Hofinga mit russischen Kindern mit Behinderung.
Foto: Anne Hofinga

Wird bei Säuglingen nach der Geburt eine Behinderung diagnostiziert, drängen die Behörden die Eltern, das Sorgerecht ihres Kindes an den Staat abzugeben. Dann, so Hofinga, wird es in ein Säuglingsheim gebracht. Ein Waisenhaus ist die nächste Station, im Alter von vier, fünf Jahren wird dann selektiert, die Kinder mit Behinderung werden in eine Art Aufbewahrungsanstalt gebracht. Spätestens im Erwachsenenalter landen sie in einer geschlossenen Anstalt, die vom Staat als neurologisches Institut bezeichnet wird. Von dort gibt es in der Regel kein Entkommen.

Entscheiden sich die Eltern, trotz des ausgeübten Drucks ihr Kind zu behalten, dann werden sie oft auf offener Straße beschimpft. Hofinga wurden schon einige unschöne Alltagsanekdoten erzählt: "Ihr ganzes Leben ist eine Art Dauerverteidigung. Sie müssen sich immer rechtfertigen, weshalb sie mit diesem Kind leben, anstatt es einfach abzuschieben." Vor allem der Hass gegen Menschen mit geistiger Behinderung ist in Russland enorm. Hofinga beschreibt das folgendermaßen: "Es ist wahnsinnig schwierig für sie, vom Großteil der Bevölkerung überhaupt als Menschen wahrgenommen zu werden. Sie werden nicht so schlecht behandelt, dass sie jetzt früher sterben, aber sie werden einfach als nichtfühlende Wesen betrachtet."

Hitler und seine Grube

Dieser Ansicht entsprechend gibt es in Russland nur wenige Bildungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung. Eine davon ist die heilpädagogische Schule des Heiligen Georg in Moskau, die sich um Kinder mit geistiger Behinderung kümmert und die auch von deutschen NGOs und Hofinga unterstützt wird. Dieser Institution sollte im Frühling 2012 ein Ende bereitet werden, wie Hofinga erklärt: "Die Stadteilsbehörde hat uns einen Räumungsbefehl geschickt. Der war auch noch vordatiert, damit wir weniger Zeit haben, um darauf zu reagieren." Daraufhin gingen die Großmutter und Mutter eines Schülers zur Behörde, um dagegen zu protestieren. Die verantwortlichen Beamten zeigten laut Hofinga allerdings kein Verständnis: "Er sagte, sie sollen doch stillhalten und sich überlegen, wie gut Russland mit ihren Kindern umgeht. Hitler hätte solche Leute in der Grube versenkt."

Die Schule, deutsche NGOs und Hofinga gaben aber nicht auf und schickten zahlreiche Briefe an Politiker, die beschrieben, wie wichtig diese Schule sei. Petitionen wurden online gestellt, zudem gab es zu dieser Angelegenheit zahlreiche Beiträge in russischen Medien. Nach wie vor eine Seltenheit, erklärt Hofinga: "Ich habe schon früher versucht, Medienvertreter in diverse Einrichtungen einzuladen. In Moskau war das bisher immer ausgeschlossen, in kleineren Ortschaften war es möglich. Da war der Level der Menschlichkeit immer höher."

Unterricht an der Schule des Heiligen Georg in Moskau.
Foto: Schule des Heiligen Georg

Die ungewohnte mediale Aufmerksamkeit und die Kommunikation mit bedeutenden Persönlichkeiten haben schließlich dazu geführt, dass die Behörden einlenkten. Man wollte diese bekannte Schule nie schließen, hieß es auf einmal. Das sei alles nur ein großes Missverständnis gewesen, erklärte man. Die Schule besteht also weiterhin, die Situation ist aber immer noch prekär. Zwar wurde sie nach langem Kampf mit den Behörden 2009 offiziell als Sonderschule anerkannt, erhält vom Staat aber nur die finanzielle Unterstützung für eine Normalschule. Der Aufwand an Betreuung bei Kindern mit Behinderung ist aber um einiges größer, ohne Gelder aus dem Ausland wäre ein dauerhafter Betrieb vermutlich nicht möglich. Auch müssen Eltern oft finanziell unterstützt werden, damit sie sich die Ausbildung ihrer Kinder leisten können.

Verbesserung auf bescheidenem Niveau

Der kleine Etappenerfolg der Schule des Heiligen Georg passt zur allgemeinen Entwicklung in Russland. Insgesamt hat sich in den letzten Jahren die Situation für die rund 13 Millionen Menschen mit Behinderung etwas gebessert, wenn auch auf bescheidenem Niveau. Unter Wladimir Putin wurden die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, um Forderungen nach Rollstuhlrampen oder anderen behindertengerechten Maßnahmen nachzukommen. Umgesetzt wird all dies aber sehr beschränkt, und das auch nur in Großstädten.

Im Mai 2012 unterschrieb der scheidende Präsident Dmitri Medwedew die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Diese sieht vor, dass Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten vollständig am gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben teilnehmen sollen. Bis dahin muss Russland noch einen weiten Weg beschreiten. Abgesehen von Barrieren, Anfeindungen und Ausgrenzungen sind 77 Prozent der arbeitsfähigen Menschen mit Behinderung ohne Beschäftigung. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 12.9.2012)