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Pakistanische Christen, die aus dem Viertel des verhafteten Mädchens geflohen sind. Sie fürchten sich vor Racheakten.

Foto: B.K. Bangash/AP/dapd

Islamabad/Neu-Delhi - Es kommt fast einer Sensation gleich - jedenfalls für ein Land wie Pakistan, in dem Fanatiker an Boden gewinnen und Minderheiten immer brutaler terrorisieren. In einer überraschenden Wende nahmen die Behörden den islamischen Geistlichen Khalid Chishti fest, der die junge Christin Rimsha Masih wegen Blasphemie bei der Polizei denunziert hatte. Man wirft ihm vor, zerrissene Koranseiten in einem Plastiksackerl des Mädchens platziert zu haben, um dem Kind eine Straftat anzuhängen.

Rimshas Fall hatte weltweit für Entsetzen gesorgt. Das geistig zurückgebliebene Mädchen sitzt seit 16. August im hochgesicherten Adiala-Gefängnis in Islamabads Nachbarstadt Rawalpindi - dort, wo Mörder, Schwerverbrecher und Terroristen von Lashkar-e-Toiba ihre Strafe verbüßen. Dabei ist sie laut medizinischem Befund 14, ihre Eltern sagen sogar: nur elf Jahre alt. Wie die meisten Pakistaner hat sie keine Geburtsurkunde.

Chishti hatte behauptet, das Mädchen, das laut einigen Berichten das Down-Syndrom hat, habe Seiten des Korans zerrissen oder verbrannt und in ein Sackerl mit Papiermüll gesteckt. Nun haben Bürger laut Polizei jedoch Chishti selbst belastet, der in einer Moschee in Rimshas Nachbarschaft als Imam dient. "Zeugen haben ausgesagt, dass er zerrissene Koranseiten in ihre Plastiktasche geschmuggelt hat", sagte Polizeioffizier Munir Hussain Jafri.

Laut Zeugen soll er das Mädchen in Verdacht gebracht haben, um die Christen aus dem Viertel zu vertreiben. Von Chishtis Festnahme könnte ein wichtiges Signal ausgehen: Erstmals haben die Behörden demonstriert, dass jene, die Angehörige von Minderheiten zu Unrecht anschwärzen, nicht ungeschoren davonkommen - und dass dies sogar für Geistliche gilt. Zudem stellte sich auch der Chef des Ulema-Rats, der Dachorganisation pakistanischer Geistlicher, hinter die Festnahme: Allama Tahir Ashrafi rief das Oberste Gericht auf, Chishti wegen Blasphemie anzuklagen.

Pakistans Menschenrechtskommission beklagt seit langem, dass das Blasphemie-Gesetz missbraucht wird, um sich unliebsamer Nachbarn zu entledigen oder Minderheiten zu unterdrücken. Die Hetze gegen Minderheiten wie Hindus, Schiiten, Ahmadis und Christen nimmt alarmierend zu. Nach dem Gesetz droht jedem die Todesstrafe oder lebenslange Haft, der schlecht über den Islam oder den Propheten Mohammed spricht oder den Koran entweiht.

Zu Tode geprügelt

Die Todesstrafe wurde zwar bisher nie vollstreckt, aber immer wieder wurden Angeklagte gelyncht. Erst im Juli hat ein aufgestachelter Mob einen Mann aus einer Polizeiwache gezerrt und zu Tode geprügelt. Aus Rimshas Viertel flohen 600 Menschen aus Angst vor Racheakten. Es ist fraglich, ob Rimsha und ihre Familie jemals in ihr Haus zurückkehren können. Sie müssen Angst haben, ermordet zu werden.

Dabei geht es nicht immer um religiöse Spannungen, sondern oft auch um Streitereien oder Kastenkonflikte. Die meisten Christen in Pakistan und Indien sind Nachfahren von "Unberührbaren", die zum Christentum konvertierten, um der Diskriminierung zu entfliehen. Doch bis heute halten sich die Kastenschranken. Auch im Fall von Rimsha kursieren Gerüchte, dass ihre Eltern zuvor Streit mit dem Vermieter hatten.

Die Vorwürfe gegen den Geistlichen eröffnen den Behörden nun einen Weg, das Mädchen freizulassen. Doch das grundsätzliche Problem schwelt weiter: Bis heute sitzt zum Beispiel die Christin Asia Bibi im Gefängnis. Ein Gericht hatte sie im November 2010 zum Tode verurteilt, nachdem höherkastige Nachbarinnen behauptet hatten, sie habe den Propheten Mohammed beleidigt. Obgleich es offenbar um einen Streit unter Frauen ging, trauen sich die Behörden nicht, Asia freizulassen. Auch ihre Familie hält sich versteckt. (Christine Möllhoff, DER STANDARD, 3.9.2012)