Sieht Reformbedarf bei den Sozialsystemen auch in besser dastehenden Ländern wie Deutschland: IW-Chef Michael Hüther.

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Ständig neue Diskussionen über immer neue Maßnahmen zur Bewältigung der Eurokrise gefährden die Glaubwürdigkeit der Eurozone, sagt der Ökonom Michael Hüther. Reformerfolge der Krisenstaaten sieht er sehr wohl.

STANDARD: Bei den Wirtschaftsgesprächen in Alpbach geht es um den Fortbestand der Sozialsysteme. Wie soll das Ihrer Meinung nach geschehen?

Hüther: Wir müssen uns fragen, ob der Schwerpunkt nicht stärker auf Bildung gelegt werden sollte, das Umschichten der Gelder vom Auffangen, von der Betreuung hin zur Bildung. Wir haben in Deutschland deutliche Fortschritte mit den Arbeits- und Sozialreformen gemacht, es gibt aber auch noch einiges zu tun. Im Grunde geht es um die Integration in einen erfolgreichen Lebensverlauf und, wenn mal Probleme auftreten, um Systeme, die wieder in den Arbeitsmarkt zurückführen. Es wird gerne unterschlagen, dass durch die Hartz-Reformen 1,5 Millionen Erwerbsfähige aus der Sozialhilfe in die Arbeitsförderung hineinkamen. Die hatten davor gar keinen Anspruch. Das sind Beispiele einer Befähigungsstrategie, auf die wir den Fokus legen sollten.

STANDARD: Derzeit werden die Sozialsysteme in den Krisenländern radikal beschnitten. Kommen stabilere Staaten wie Deutschland und Österreich langfristig um derartige Reformen herum?

Hüther: Wir haben in Deutschland und Österreich ein Staatsschuldenproblem. Derzeit profitieren wir ja von den niedrigen Zinsen auf Bundesanleihen, sodass die Konditionen sehr günstig sind. Aber bei einer Staatsschuldenquote von 80 Prozent bleibt das Thema am Tisch, das muss man früh angehen. Über die Schuldenbremsen ist der gesetzliche Rahmen ja auch gegeben. Die Konsequenzen werden nicht so dramatisch sein - sicher kein Vergleich mit Griechenland oder Spanien. Aber was beispielsweise Kommunen an Daseinsvorsorge bereitstellen können, das ist schon eine diskussionswürdige Frage. Da erleben wir hautnah, was der Einzelne benötigt. Das Ausmaß der sozialen Sicherung, das wir gerade in Griechenland oder Spanien kennenlernen, ist gewaltig. Wenn man die Rente in Griechenland bei 2000 Euro im Monat deckelt, wird das ersichtlich. In dieser Höhe gibt es selbst in Deutschland kaum eine Rente.

STANDARD: Gehen die Sparmaßnahmen in den Südländern nicht einseitig auf untere Schichten mit negativen Konjunkturfolgen?

Hüther: Es wird natürlich zunächst versucht, dort Mittel zu lukrieren, wo es am leichtesten geht. Mehrwertsteuern werden erhöht, auch wenn die Maßnahmen dann wegen der Rezession keine Mehreinnahmen bringen. In Portugal steigt das Konsumentenvertrauen seit dem Frühjahr trotz Einschnitte wieder kontinuierlich. Offenkundig wurde die Reformpolitik in Portugal den Bürgern richtig vermittelt und kann daher gelingen. Verteilungskonflikte sind unvermeidbar, ebenso steigende Arbeitslosigkeit, weil die Wirtschaftsstrukturen nicht mehr staatlich oder rein binnenwirtschaftlich getragen werden können. Sehen Sie sich den griechischen Tourismus an. Das Wachstum kam zu 70 Prozent aus dem Inland.

STANDARD: Sie haben Portugal erwähnt, aber selbst das für die rigorosen Reformen oft gelobte Land scheint den Defizit-Fahrplan nicht halten zu können. Ist die Strategie in den Krisenländern falsch?

Hüther: Die Reformprogramme greifen, das sieht man an steigenden Exporten und sinkenden Leistungsbilanzdefiziten. Da ist etwas in Gang gekommen, aber das vor dem Hintergrund einer schwierigen gesamtwirtschaftlichen Situation. Das Pro blem dabei ist, dass die Defizitziele nicht konjunkturbereinigt gemessen werden. Das führt dazu, dass am Anfang Einsparungen stehen, die wegen der rezessiven Effekte quasi verdoppelt werden müssen. Daher bin ich der Ansicht, dass Ländern, die glaubhaft reformieren, mehr Zeit gewährt werden sollte.

STANDARD: Wie sähe die Situation aus, würde man nur das strukturelle Defizit heranziehen, das die konjunkturbedingte Verschlechterung der Haushaltsdaten eliminiert?

Hüther: Dann sieht man einen deutlichen Rückgang der Defizite. Griechenland etwa hatte 2011 ein Defizit von neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ohne Konjunktureffekte sind es 5,4 Prozent. Diese Unterschiede gibt es in abgeschwächter Form auch in Spanien und Portugal.

STANDARD: Derzeit werden wieder zahlreiche neue Maßnahmen gegen die Eurokrise gefordert, wie eine Banklizenz für den ESM. Wie beurteilen Sie das?

Hüther: Das halte ich für außerordentlich problematisch, denn das stellt ja letztlich infrage, was man gerade beschlossen und gemacht hat. Es geht jetzt um Glaubwürdigkeit und Vertrauen auch an den Märkten, und das gewinnt man nicht dadurch, dass man gerade getroffene Beschlüsse in Zweifel zieht. Wer jetzt über eine Banklizenz für den ESM redet, der redet über etwas, das völlig neue Verhandlungen erfordern würde. Außerdem hätte ich meine Zweifel, ob das kurzfristig funktionieren würde, ganz abgesehen davon, dass ich die Idee für falsch halte. Mit der scheinbar endlosen Refinanzierung des ESM bei der EZB würden wir Finanz- und Geldpolitik voneinander trennen. Das eigentlich Missliche ist die Kakofonie und das Infragestellen des gerade Erreichten in der Eurozone.

STANDARD: Wie geht's weiter?

Hüther: EZB-Chef Mario Draghi hat sich relativ weit aus dem Fenster gehängt, er wird intervenieren und Staatsanleihen kaufen. Das ist ein Schritt, den ich für problematisch halte, weil die EZB damit Verluste einfährt. Das ist eine Art von Gemeinschaftung von Haftungen, die wir nicht gebrauchen können und auch die falsche Botschaft. Es ist nicht die Aufgabe der Geldpolitik, finanzpolitische Probleme zu lösen, und sie kann es auch nicht. Die Maßnahmen sind immer nur kurzfristig. Man muss die strukturellen Probleme lösen, und es gibt genug Anzeichen, dass das auch geht.

STANDARD: Aber gerade Italien und Spanien fordern mehr Hilfe.

Hüther: Spanien und Italien, die beide keine Programmländer sind, vermitteln damit nicht gerade politische Verlässlichkeit. (Andreas Schnauder, DER STANDARD, 28.8.2012)