DER STANDARD-Schwerpunktausgabe "Die Zukunft der Mobilität"

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Wolfsburg/Wien - Die Geschichte der Moderne erscheint uns zumeist als eine Geschichte der Beschleunigung. Die Entwicklung immer schnellerer Transportmittel, immer weiter reichender Kommunikationsmittel und optimierter Produktionsverfahren haben das Lebenstempo kontinuierlich erhöht - bis hin zu dem, was der französische Philosoph Paul Virilio als "rasenden Stillstand" apostrophierte. Eine sichtbare Spitze dieser Entwicklung war seit jeher die Kunst, die in allen Sparten - als Avantgarde - selbst das Rad der Zeit mit Erfindungen und Erneuerungen in Schwung gehalten hat. "Wir hoffen auf ein ‚ewiges Leben vor dem Tod‘, das zwar nicht zeitlich unendlich ist, aber eine Vielzahl von Erlebnissen verspricht, wenn wir nur schnell genug werden", umschrieb der Soziologe Hartmut Rosa 2011 selbiges Phänomen.

Mit der grassierenden Faszination für Beschleunigung wächst aber auch der Wunsch nach Entschleunigung, nach Kontemplation, nach Refugien der Individualität. Eindrucksvoll visualisiert dieses Streben das Kunstmuseum Wolfsburg. Ausstellung und die begleitende Publikation Die Kunst der Entschleunigung befassen sich mit Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei. Die Retrospektive subsumiert Videoperformances, Fotosequenzen, Filmstills sowie Installationen und Gemälde der Gegenwart mittels Gegenüberstellung zu Werkserien aus der Kunstgeschichte. Korrelationen, Analogien und Divergenzen werden augenscheinlich. Exzerptionell enthält die Ausstellung Exponate von Tinguely, de Chirico, William Turner, Kandinsky, Beuys, Nauman, Warhol, Malewitsch, Rodschenko et alii. Sie präsentiert Futurismus, Kinetik und Abstraktion bis hin zu performativen Werken und Interventionen im öffentlichen Raum. Von einem Tsunami der Reize ist die Rede, von der Droge Geschwindigkeit, von der Freiheit durch Mobilität - historisch durch Autos, Dampfmaschinen, Schiffe bis hin zur Zukunftsperspektive der Raumfahrt.

Szenarien des Chaos, der Beschleunigung durch das philosophische Turboprinzip des Fortschritts, der Weiterentwicklung - begründet durch humanitäre, ökonomische und ökologische Aspekte - werden zu einer Verlangsamung, zu einer Ökologie der Zeit führen. Ein diskursiver Wettstreit zwischen Ratio und Emotion, der ultimativ nur in den Rezeptoren des Gehirns entschieden werden kann. Heute, in einer Epoche unentwegter Dynamik, wächst die Erkenntnis, dass Ruhe und Unruhe nahe Verwandte sind. Die Waage zu halten wird in Hinkunft eine der wesentlichen Herausforderungen sein. Des Individuums und der Gesellschaft. (Gregor Auenhammer, DER STANDARD, 25./26.8.2012)