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Frühgeborene haben bis zum eigentlichen Geburtstermin einen erhöhten Bedarf an Proteinen und Kohlenhydraten, vor allem an Kalzium, Phosphor und Vitamin D für den Knochenstoffwechsel", weiß die Neonatologin Nadja Haiden von der Med-Uni Wien.

Foto: dpa/Daniel Karmann

Vor zwei Generationen hatten sie noch keine Chance: Frühchen, Babys, die Wochen vor ihrem eigentlichen Geburtstermin auf die Welt kommen und oft weniger als 1500 Gramm wiegen. Heutzutage landen solche Kinder zunächst auf speziellen Intensivstationen. Viele überleben, aber ihre Behandlung ist mit offenen Fragen verbunden - auch in Bezug auf die Ernährung.

Man weiß, dass Frühgeborene bis zum eigentlichen Geburtstermin einen erhöhten Bedarf an Proteinen und Kohlenhydraten, vor allem an Kalzium, Phosphor und Vitamin D für den Knochenstoffwechsel haben", sagt die Neonatologin Nadja Haiden von der Med-Uni Wien. Deshalb wird in den ersten Lebenswochen und auch nach der Intensivpflege die Muttermilch mit Zusatzstoffen angereichert oder spezielle, künstliche Babynahrung gefüttert. Später empfehlen viele Ärzte eine möglichst frühe Zugabe von fester Nahrung in Form von Brei. So sollen durch die verfrühte Geburt entstandene Defizite ausgeglichen werden.

Reine Gewichtszunahme ist kein Erfolgskriterium

Doch diese Praxis beruht nicht auf soliden wissenschaftlichen Grundlagen. Es gibt keine Studien über die genaue Wirkung von solchen Zusatzdiäten, sagt Haiden. Möglicherweise profitieren die Kinder von der festen Beikost, vielleicht aber werden sie auch nur dick davon, so die Expertin. Reine Gewichtszunahme ist kein Erfolgskriterium. Es geht schließlich darum, das Wachstum von Muskeln, Knochen und Gehirn zu fördern und nicht bloß das Ansetzen von Babyspeck. Eine zu starke Proteinaufnahme könnte über eine Beeinträchtigung des Hormonhaushalts im späteren Leben vielleicht sogar Diabetes und Fettleibigkeit verursachen.

Hier wollen Haiden und ihre Arbeitsgruppe Klarheit schaffen. Im kommenden Herbst wird das Team sein PIES-Projekt starten, eine bislang einzigartige Studie im Bereich Frühgeborenen-Ernährung. Es soll detaillierte Daten über den Einfluss von Zusatznahrung auf die Kindesentwicklung liefern.

Einfluss einzelner Inhaltsstoffe evaluieren

Prinzipiell wird zwischen drei verschiedenen Sorten Beikost unterschieden, erläutert Haiden. Sie unterscheiden sich jedoch nicht grundsätzlich von dem, was normal geborene Babys vorgesetzt bekommen. Zum einen gibt es die Obst- und Gemüsebreie wie zum Beispiel pürierte Bananen. "Relativ bald kommt dann auch püriertes Rindfleisch dazu, für die Eisenversorgung", so die Medizinerin. Das reicht nicht immer aus, man verabreicht zusätzliche Eisenpräparate. Des Weiteren kommen Getreidebreie aufs Tellerchen. Nach und nach sollen die Stückchen im Essen größer werden. Die Fütterung, erklärt Haiden, ist meist schwierig. "Frühchen sind oft sehr empfindlich im Mundbereich". Die Ursachen liegen in der Intensivpflege, vor allem wegen der Intubation bei maschineller Beatmung.

"Wir wollen in der Studie eine sehr nährstoffreiche, standardisierte Beikost geben", erläutert sie. Wenn die Babys ein präzise dosiertes Nahrungsangebot erhalten und auch die aufgenommenen Mengen exakt registriert werden, dann können die Forscher den Einfluss einzelner Inhaltsstoffe evaluieren.

Studiendesign

Insgesamt sollen 152 gesund aus dem Spital entlassene Frühchen an dem PIES-Projekt teilnehmen. Bei der Hälfte von ihnen wird die Gabe von fester Kost, zusätzlich zur Muttermilch oder Flaschennahrung, in der 10. bis 12. Woche nach dem regulären Geburtstermin starten, für die zweite Gruppe beginnt dies erst in der 16. bis 18. Woche. Jedes der Kleinkinder bekommt einen von fünf verschiedenen Speiseplänen mit unterschiedlichen Zutaten und Zusätzen knapp ein Jahr lang verabreicht. Ihre Entwicklung dokumentieren die Wissenschafter anschließend bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr. Aus den Ergebnissen wird sich ableiten lassen, ob Frühgeborene von einem bestimmten Nahrungsmittel besonders profitieren und welchen Einfluss der Beginn der Zusatznahrung eventuell hat.

Allergische Sensibilisierung

Wichtige offene Fragen gibt es auch hinsichtlich des Einflusses von Beikost auf die Entstehung von atopischen Krankheiten wie Allergien. Schon für Reifgeborene ist die diesbezügliche Datenlage kompliziert. Es gibt Hinweise darauf, dass eine sehr frühe Zugabe von Breien wie auch ein lang hinaus gezogener Beginn der Zufütterung das Risiko für allergische Sensibilisierung erhöhen kann, berichtet Haiden. Dementsprechend empfiehlt die europäische Expertengesellschaft für Kinderernährung, ESPGHAN, zwischen der 17. und der 26. Lebenswoche mit der Fütterung von Beikost zu beginnen. Bei der Zusammensetzung sollte es keine Einschränkungen geben. Vermeidung von Eiern, Nüssen oder Fisch hat keinen nachweisbaren positiven Einfluss auf die Entwicklung der Kinder, die Beimischung von geringen Mengen glutenhaltiger Getreideprodukte ab der 17. Woche hat anscheinend sogar eine präventive Wirkung gegen Zöliakie.

Für die allergiefördernden oder -hemmenden Effekte von fester Zusatznahrung bei Frühchen gibt es allerdings keine belastbaren Daten - und somit auch keine Empfehlung. "Wir wissen nicht, was sicher ist", sagt Nadja Haiden. Diese Lücke will das Wiener Forscherteam ebenfalls mit seiner Studie schließen. "Bei den Frühgeborenen wird seitens der Industrie nicht sonderlich viel Forschung betrieben", betont die Fachärztin. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 17.8.2012)