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Wind, Wetter und Sonne formten aus dem weichen Sandstein der sächsischen Schweiz das Klettererparadies "Lokomotive".

Foto: AP Photo/Matthias Rietschel

"Es ist das beste Klettergebiet und mit nichts vergleichbar", schwärmt Christian Mayerhofer, dabei zurrt er seinen Hüftgurt fest. Immer wieder fährt der drahtige Münchner mit seinem Kumpel zum Klettern in die sächsische Schweiz, obwohl er die Alpen direkt vor seiner Haustür hat. Jede Tour dokumentiert der Hobbyzeichner zu Hause mit filigranen Skizzen der Aufstiegsrouten. "Dort oben hat man ein wunderbares Gefühl von Freiheit", sagt er und schaut hoch zum Gipfel des "Bierdeckels". Die Säule macht ihrem Namen alle Ehre. Oben ist gerade so viel Platz, dass zwei Personen sitzen können. Doch die Sicht ist einmalig.

Über 1100 Felstürme, runzelig wie Elefantenrüssel, ragen aus dem Wald hervor. Sie fühlen sich rau an wie Schmirgelpapier. An manchen von ihnen wachsen Beulen oder steinerne Finger, andere besitzen wabengleiche Löcher. Seit Jahrhunderten nagt das Wetter an der zerbrochenen Sandsteinplatte, die sich hier einst aus einem Meer erhob. Jedes Jahr besuchen drei Millionen Menschen das Elbsandsteingebirge im Osten Deutschlands, das sich zu einem Drittel in Tschechien hineinzieht.

Die Gegend gilt als Wiege des Sportkletterns und als schwieriges Klettergebiet. Hier gibt es ganz eigene Regeln. Danach dürfen Gipfelstürmer keine Hilfsmittel wie Magnesium gegen feuchte Hände benutzen oder Klemmkeile aus Metall, da dies den Sandstein schädigt. Kletterer heißen hier Bergsteiger. Die Ersten, die sich vor 150 Jahren an den senkrechten Wegen hochhangelten, waren die "Schandauer Turner". Einer von ihnen emigrierte in die USA und etablierte dort das Freiklettern, das als Update mit Namen Freeclimbing später wieder zurückkam. Inzwischen gibt es mehr als 18.000 Aufstiegsrouten. Inspiriert von der Dramatik der steinernen Türme gaben die Erstbesteiger den Wegen und Gipfeln verheißungsvolle Namen wie "Aha-Erlebnis", "Sand im Auge" und "Himmelfahrtskante". Die schwierigeren unter ihnen nennen sich "Molotovcocktail", "Apokalypse" und "Letzte Ölung".

Der König der Bergsteiger ist Bernd Arnold. Er läuft die Felsen sogar barfuß hoch. "Klettern ist kein Sport, sondern eine Lebensform", sagt der inzwischen 64-Jährige. Der Einheimische muss es wissen, denn vor seiner Haustür hat er die meisten Gipfel als Erster bestiegen. Als Ehrenbürger lebt er in dem Fachwerkstädtchen Hohnstein und bietet Kletterkurse an.

Eng mit dem Sport verbunden ist das "Boofen", das Schlafen unter einem Felsvorsprung oder in einer Höhle (poven = tief schlafen). Die ersten Kletterer aus Dresden kamen mit dem Fahrrad und konnten am späten Abend nicht mehr heimradeln. Sie sammelten Holz, entzündeten ein Feuer, grillten Würstchen und rollten schließlich auf sandigem Grund ihre Schlafsäcke aus. Bis heute sind die Plätze auf keiner Karte exakt vermerkt.

Ohne Geld und ohne Seil

Die berühmteste Erklimmung im Elbsandsteingebirge vollzog im Jahr 1848 der arbeitslose Schornsteinfeger Sebastian Abratzky. Er hatte kein Geld für den Eintritt der Burg Königstein. Deshalb kletterte er ungesichert die Festungsmauer hinauf. Oben angekommen, nahm man ihn sofort gefangen. Seine Erlebnisse schrieb er unter dem Titel "Die einzige Eroberung der Festung Königstein" nieder und lebte vom Erlös des Heftchens, bis er starb. Heute ist der "Abratzkykamin" eine offizielle Klettertour, auch wenn man nach wie vor nicht über die Burgmauer steigen darf.

Ganz unten in der Schlucht ist es modrig und feucht wie in einem Keller. Riesige Felsblöcke liegen verstreut, als hätte Gulliver Mikado mit ihnen gespielt. Aus ihren Ritzen sprießen üppige Farne und Moosteppiche.

In der Wolfsschlucht machen am Abend dutzende Scheinwerfer dem Mond Konkurrenz. Dort liegt die Freilichtbühne von Rathen. Gerade läuft die "Zauberflöte". Auf der Landschaftsbühne wurden 1936 die ersten Karl May Festspiele uraufgeführt. Das beliebteste Stück ist jedoch seit langem "Der Freischütz" von Carl Maria von Weber. Nach dem letzten Applaus pilgern Scharen von Besuchern durch die Gassen Niederrathens ans Elbufer. Eine Gierseilfähre bringt sie bis ein Uhr nachts über den Fluss zurück in den Ortsteil Oberrathen. Die sogenannte "Fliegende Brücke" steht unter Denkmalschutz.

Auch Christian Mayerhofer und sein Partner nehmen die Fähre. Diesmal "boofen" sie nicht, sondern übernachten in einer Pension auf der anderen Elbseite. Welche Säule kommt als Nächste? "Zum 'Bierdeckel' gehört natürlich die 'Flasche'", lacht der Kletterer, "und für die ,Letzte Ölung' ist später immer noch Zeit." (Monika Hippe, Album, DER STANDARD, 18.8.2012)