Anfang der 1990er-Jahre hatten es Blur nicht leicht. Gerade erst von ihrem Label mit einem neuen Namen beglückt, versuchte man sich ein paar Jahre zu spät geboren am Madchester-Sound, bevor die Band um Mastermind Damon Albarn ein Einsehen hatte und sich an der Zeitlosigkeit der Beatles und der Gassenhauerqualität der Kinks orientierte.
Das bedeutete: Während aus den USA damals mit der Grunge-Explosion eine musikalische Revolution die Welt erfasste, flüchteten Blur zurück in die Vergangenheit. Das war etwas fad, zumal britische Bands wie The Smiths oder die von Blur verehrten XTC und noch ein paar Dutzend mehr im Jahrzehnt zuvor vorgezeigt hatten, dass es ohne Beatles und Kinks geht.
Die Trotzköpfe von Blur jedoch insistierten auf ihrer Entscheidung und sollten recht behalten. Neben Oasis wurden sie zu den berühmtesten Vertretern des Brit-Pop der 1990er-Jahre - die medial weniger beachteten Pulp die spannendsten. Nun ist seit damals viel Wasser die Themse heruntergelaufen und sogar ein armer Wal dieselbe hochgeschwommen, das alles alte Geschichte. Aber nichts wird so gerne aufgewärmt wie alte Geschichten.
Das machen Blur nun mit Blur 21. So nennen sich zwei Box-Sets voll Blur-Musik. Während das eine Set alle Alben der Band als Vinyldoppelalben neu bietet, erfährt das andere unter Zuhilfenahme von Eigenblutdoping die Gralswerdung für die Fans der Londoner Band: Blur 21 - The Box dürfte neben allen regulären Alben, diversen Konzertfilmen sowie elf CDs mit Raritäten, Blödheiten (Sir Elton John's Cock), Demos und B-Seiten so gut wie alles enthalten, was Albarn, Graham Coxon, Alex James und Dave Rowntree je zusammen aufgenommen haben. Dazu eine 7-Zoll-Single mit dem Song Superman, als Blur sich noch Seymour nannten.
Wie viele Tage Lebenszeit man da investiert, wenn man sich alles anschaut und anhört, müsste man ausrechnen. Wenn man die Stationen der Band über ihre regulären Alben nachverfolgt, lässt sich immerhin sagen, dass Blur sich - im Gegensatz zu Oasis - weiterentwickelt haben und 1997 mit einem titellosen Album der klassischen Brit-Pop-Phase entwachsen waren. Verantwortlich dafür war das Interesse von Albarn für andere Musiken, die Blur adaptierten - am deutlichsten und eindringlichsten wird das im Album Think Tank von 2003.
Man merkt schon, neue Erkenntnisse stellen sich mit alten Alben nicht ein, auf den Raritäten-CDs finden sich neben Epoche-affiner Meterware aber immer wieder geniale Kleinode, die der Verklärung und der Melancholie durchaus förderlich sind. Was der Musik heute fehlt, ist die medial begleitende Hysterie von damals, die mehr als ein patriotisches Bäuerchen zutage förderte und selbst nur wegen des Spaßes an der Heiterkeit Anteil nehmende Zaungäste in Beschlag nahm.
Konvertieren wird wegen Blur 21 wohl niemand, den Glauben verlieren aber auch nicht. Schade nur, dass es heute kaum noch Bands und Strömungen gibt, an denen sich das große Publikum so gerieben oder erfreut hat. Ja, da geht eine Träne auf Reisen. (flu, Rondo, DER STANDARD, 17.8.2012)