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Wolken auch über dem Kontinent: Nicht die Brüsseler Bürokratie, sondern die Finanzwelt der Londoner Canary Wharf ist für viele zum Symbol des europäischen Problems geworden. Foto: EPA

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Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bat zwei Philosophen und einen Ökonomen um einen Beitrag für das Regierungsprogramm seiner Partei. Entstanden ist eine engagierte Aufforderung, gesamteuropäisch einen Kurswechsel vorzunehmen.

 

Die Eurokrise spiegelt das Versagen einer perspektivlosen Politik. Der Bundesregierung fehlt der Mut, einen unhaltbar geworden Status quo zu überwinden. Das ist die Ursache dafür, dass sich trotz umfangreicher Rettungsprogramme und kaum noch zu zählender Krisengipfel die Situation des Euroraums in den beiden vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert hat.

Griechenland droht nach dem wirtschaftlichen Absturz der Austritt aus dem Euro, was mit unkalkulierbaren Kettenreaktionen für die übrigen Mitgliedsländer verbunden wäre. Italien, Spanien und Portugal sind in eine schwere Rezession geraten, die die Arbeitslosigkeit immer weiter steigert.

Die ungünstige konjunkturelle Entwicklung der Problemländer verschärft die ohnehin labile Situation der Banken, und die wachsende Unsicherheit über die Zukunft der Währungsunion führt dazu, dass Anleger immer weniger bereit sind, Anleihen der Problemländer zu erwerben. Steigende Zinsen für Staatsanleihen, aber auch die immer schlechtere wirtschaftliche Lage erschweren wiederum die ohnehin nicht einfachen Konsolidierungsprozesse.

Diese sich selbst verstärkende Destabilisierung ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass die Krisenbewältigungsstrategien nicht über die Schwelle einer Vertiefung der Europäischen Institutionen hinausgegangen sind. Die Tatsache, dass sich die Krise in den Jahren kopflos inkrementalistischer Behandlungsversuche nur verschärft hat, macht den Mangel an politischer Gestaltungskraft offensichtlich.

Die Rechtfertigung eines großen Integrationsschrittes ergibt sich gleichermaßen aus der Notwendigkeit, das Unwesen des gespenstischen Paralleluniversums, das die Investmentbanken und Hedgefonds neben der realen, Güter und Dienstleistungen produzierenden Wirtschaft aufgebaut haben, durch eine Selbstermächtigung der Politik wieder einzufangen.

Überforderte Solidarität

Die erforderlichen Maßnahmen zu einer Re-Regulierung liegen auf der Hand. Aber sie kommen nicht zum Zuge, weil einerseits eine Implementierung dieser Maßnahmen im nationalstaatlichen Rahmen kontraproduktive Folgen hätte und andererseits die 2008 auf dem ersten Londoner G-20-Gipfel beschlossenen Regulierungsabsichten ein weltweit koordiniertes Handeln erfordern würden, das einstweilen an der politischen Fragmentierung der Staatengemeinschaft scheitert.

Eine so große Wirtschaftsmacht wie die EU, mindestens aber die Eurozone, könnte in dieser Hinsicht eine Avantgardefunktion übernehmen. Nur mit einer deutlichen Vertiefung der Integration lässt sich eine gemeinsame Währung aufrechterhalten, ohne dass es einer nicht endenden Kette von Hilfsmaßnahmen bedarf, die die Solidarität der europäischen Staatsvölker im Währungsraum auf beiden Seiten, der Geber- und wie der Nehmerländer, langfristig überfordern würde.

Eine Souveränitätsübertragung auf Europäische Institutionen ist dafür jedoch unvermeidlich, um Fiskaldisziplin wirksam durchzusetzen und zudem ein stabiles Finanzsystem zu garantieren.

Die Krise ist eine Refinanzierungskrise einzelner Staaten des Euroraums, die in erster Linie einer unzureichenden institutionellen Absicherung der gemeinsamen Währung geschuldet ist.

Die Eskalation der Krise verdeutlicht, dass die bisherigen Lösungsansätze unzureichend waren. Es ist deshalb zu befürchten, dass die Währungsunion ohne einen Strategiewechsel in ihrer jetzigen Form nicht mehr lange überleben wird. Der Ausgangspunkt für eine Neuausrichtung ist eine klare Diagnose der Krisenursachen.

Die Bundesregierung scheint davon auszugehen, dass die Probleme im Wesentlichen durch mangelnde Fiskaldisziplin auf der nationalen Ebene verursacht sind und dass die Lösung primär in einer konsequenten Sparpolitik der einzelnen Länder zu suchen ist. Institutionell sollte dieser Ansatz in erster Linie durch striktere Fiskalregeln und, ergänzend, durch quantitativ begrenzte, mit Konditionen versehene Rettungsschirme abgesichert werden, die die betroffenen Länder zu einer scharfen Austeritätspolitik zwingen.

Tatsächlich hat diese Politik die Wirtschaftskraft geschwächt und die Arbeitslosigkeit ansteigen lassen. Es ist den Problemländern trotz einer im internationalen Vergleich ungewöhnlich strengen Sparpolitik und vielfältigen Strukturreformen bisher nicht gelungen, ihre Refinanzierungskosten auf ein erträgliches Maß zu beschränken. Die Entwicklungen der letzten Monate sprechen somit dafür, dass die Diagnose und Therapie der Bundesregierung von Anfang an zu eindimensional angelegt war. Die Krise ist nicht allein auf nationales Fehlverhalten, sondern zu einem erheblichen Teil auf systemische Probleme zurückzuführen.

Es gibt nur zwei in sich stimmige Strategien zur Überwindung der aktuellen Krise: entweder die Rückkehr zu nationalen Währungen in der EU insgesamt, die jedes einzelne Land den unberechenbaren Schwankungen hochspekulativer Devisenmärkte aussetzen würde, oder aber die institutionelle Absicherung einer gemeinsamen Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Euroraum mit dem weitergehenden Ziel, die verlorene Handlungsfähigkeit der Politik gegenüber den Imperativen des Marktes auf transnationaler Ebene wiederzugewinnen.

Wenn man die Rückkehr zum monetären Nationalismus ebenso vermeiden will wie eine Eurokrise auf Dauer, muss der Schritt nachgeholt werden, der bei der Einführung der gemeinsamen Währung versäumt wurde: nämlich die Weichen für eine Politische Union zu stellen, und zwar zunächst im Kerneuropa der 17 EWU-Mitgliedstaaten.

Wir plädieren dafür, nichts zu verschleiern: Wer an der gemeinsamen Währung festhalten möchte, muss auch eine gemeinsame Verantwortung befürworten, muss das institutionelle Defizit im Euroraum überwinden. Der Charme des von der Bundesregierung abgelehnten Vorschlags des Sachverständigenrats zur Einrichtung eines Schuldentilgungsfonds besteht gerade darin, dass er die Illusion fortgesetzter einzelstaatlicher Souveränität durch eine offen etablierte gemeinsame Verantwortung beendet.

Es wäre allerdings konsequenter, die Verschuldung jeweils innerhalb der Maastricht-Kriterien, also bis zu einer Höhe von sechzig Prozent, zu vergemeinschaften.

Solange die Regierungen nicht sagen, was sie faktisch tun, höhlen sie die schwachen demokratischen Grundlagen der Europäischen Union noch weiter aus. Sobald wir in der Eurozone den Spielraum für Politiken schaffen, die über nationale Grenzen hinweg Umverteilungseffekte zur Folge haben, muss auch ein europäischer Gesetzgeber, der die Bürger vertritt, über diese Politiken beschließen können. Sonst verstoßen wir gegen das Prinzip, dass der Gesetzgeber, der über die Verteilung der Staatsausgaben beschließt, mit dem demokratisch gewählten Gesetzgeber identisch ist, der für diese Ausgaben Steuern erhebt.

Allerdings sollte die historische Erinnerung an die Einigung des Deutschen Reiches, die vielen Landesteilen dynastisch oktroyiert wurde, gerade uns eine Warnung sein. Die Finanzmärkte dürfen jetzt nicht mit komplizierten und schwer durchschaubaren Konstruktionen befriedigt werden, während die Regierungen stillschweigend in Kauf nehmen, dass ihren Völkern eine zentralisierte, aber über deren Köpfen verselbstständigte Exekutivgewalt übergestülpt wird. An dieser Schwelle müssen die Völker selbst zu Worte kommen.

Die Strategie der Vertragsänderung zielt auf die Gründung eines politisch geeinten, kerneuropäischen Währungsgebietes, das für Beitritte anderer EU-Länder, insbesondere Polens, offensteht. Das erfordert klare verfassungspolitische Vorstellungen von einer supranationalen Demokratie, die ein gemeinsames Regieren erlaubt, ohne die Gestalt eines Bundesstaates anzunehmen.

Der europäische Bundesstaat ist das falsche Modell und überfordert die Solidaritätsbereitschaft der historisch eigenständigen europäischen Völker. Die heute fällige Vertiefung der Institutionen könnte sich von der Idee leiten lassen, dass ein demokratisches Kerneuropa die Gesamtheit der Bürger aus den EWU-Mitgliedsstaaten repräsentieren soll, aber jeden einzelnen in seiner doppelten Eigenschaft als direkt beteiligten Bürger der reformierten Union einerseits, als indirekt beteiligtes Mitglied eines der beteiligten europäischen Völker andererseits.

Es ist nicht auszuschließen, dass das Bundesverfassungsgericht den politischen Parteien mit der Anordnung eines verfassungsändernden Plebiszits die Initiative abnimmt. Dann könnten diese sich um eine Positionierung zur bisher verschleierten Alternative nicht länger herumdrücken. Eine von SPD, CDU und Grünen getragene Initiative zur Einsetzung eines Verfassungskonvents, über dessen Ergebnisse gleichzeitig (aber nicht vor Ablauf der nächsten Wahlperiode) mit dem Verfassungsplebiszit abgestimmt werden könnte, erschiene dann nicht mehr illusorisch. Im Hinblick auf die Bundesrepublik halten wir es für aussichtsreich, dass eine Parteienallianz im Laufe einer solchen zum ersten Mal stattfindenden öffentlichen Meinungs- und Willensbildung über eine europapolitische Alternative die Mehrheit der Wähler von den Vorzügen einer Politischen Union überzeugen könnte.

Die vier Jahre währende Krise hat einen Thematisierungsschub ausgelöst, der die Aufmerksamkeit der nationalen Öffentlichkeiten wie nie zuvor auf europäische Fragen lenkt. Dadurch ist ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Finanzmarktregulierung und der Überwindung der strukturellen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone geweckt worden. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus konnte eine vom avanciertesten Sektor, den Banken, ausgelöste Krise nur noch in der Weise aufgefangen werden, dass die Regierungen ihre Bürger in der Rolle von Steuerzahlern für den eingetretenen Schaden aufkommen lassen.

Damit ist eine Schranke zwischen systemischen und lebensweltlichen Prozessen durchbrochen worden. Die Bürger empfinden das zu Recht als empörend. Das weitverbreitete Gefühl verletzter Gerechtigkeit erklärt sich daraus, dass anonyme Marktprozesse in der Wahrnehmung der Bürger eine unmittelbar politische Dimension angenommen haben. Dieses Gefühl verbindet sich mit der verhaltenen oder offenen Wut über die eigene Ohnmacht. Dem sollte eine auf Selbstermächtigung abzielende Politik entgegentreten.

Bündelung der Kräfte

Eine Diskussion über die finalité des Einigungsprozesses böte die Gelegenheit, den bisher auf wirtschaftliche Fragen eingeengten Fokus der öffentlichen Diskussion zu erweitern. Die Wahrnehmung der weltpolitischen Machtverschiebung von West nach Ost und das Gespür für eine Veränderung im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten rücken die synergetischen Vorteile einer europäischen Einigung in ein anderes Licht.

In der postkolonialen Welt hat sich die Rolle Europas nicht nur im Rückblick auf die fragwürdige Reputation ehemaliger Imperialmächte verändert, ganz zu schweigen vom Holocaust. Auch die Zukunftsprojektionen sagen Europa das Schicksal eines Kontinents von schrumpfender Bevölkerung, abnehmendem ökonomischem Gewicht und schwindender politische Bedeutung voraus.

Die europäischen Bevölkerungen müssen lernen, dass sie ihr sozialstaatliches Gesellschaftsmodell und die nationalstaatliche Vielfalt ihrer Kulturen nur noch gemeinsam behaupten können. Sie müssen ihre Kräfte bündeln, wenn sie überhaupt noch auf die Agenda der Weltpolitik und die Lösung globaler Probleme Einfluss nehmen wollen. Der Verzicht auf die europäische Einigung wäre auch ein Abschied von der Weltgeschichte.

(Peter Bofinger, Jürgen Habermas, Julian Nida-Rümelin, © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter-Allgemeine-Archiv. Leicht gekürzte Fassung, DER STANDARD, 14.8.2012)