Robert Lessmann (52) ist Soziologe und Politologe und arbeitet als Konsulent, Journalist und Buchautor zum Schwerpunkt Lateinamerika.

Foto: Standard/privat

Mit Lessmann sprach Gianluca Wallisch.

 

STANDARD: Wo wird Kuba in zehn Jahren stehen?

Lessmann: Kuba ist heute der führende Sozialstaat in Lateinamerika. Die Bevölkerung schätzt die sogenannten Errungenschaften der Revolution in Gesundheit und Bildung. Aber sie wünscht sich natürlich auch eine Überwindung der Wirtschaftskrise und des Dauernotstands bei der Versorgung.

STANDARD: Vielen gehen die Reformen zu langsam voran ...

Lessmann: Diese Errungenschaften in Bildung, Gesundheit und Sozialem sind nur haltbar, wenn die Wirtschaftsreformen ernsthaft weiterbetrieben werden. Zuletzt gab es eineinhalb Jahrzehnte Stagnation. Eine nur leichte Erholung auf niedrigem Niveau wird nicht reichen. Man wird Sparmaßnahmen und Rationalisierungen benötigen, man muss in den maroden Staatsbetrieben die Produktivität steigern - harte Einschnitte.

STANDARD: Welche Bereiche muss die politische Führung forcieren?

Lessmann: Vor allen Dingen: die Landwirtschaft. Bei der Privatisierung hat man eine Reihe von Fehlern gemacht, etwa durch bürokratische Hemmnisse und zu kurz laufende Pachtverträge. Es ist ein Unding, dass auf einer so fruchtbaren Insel 80 Prozent der Lebensmittel importiert werden müssen!

STANDARD: Die Castro-Brüder sind ja schon relativ alt ...

Lessmann: Ja, es wird einen Generationswechsel geben, schon aus biologischen Gründen. Die Versteinerung beim Denken muss ein Ende haben, die Planung muss flexibler werden. Kuba wurde über weite Strecken geführt wie ein Guerilla-Camp. 14 Jahre lang gab es nicht einmal einen Parteitag! Zeitgemäß und notwendig ist eine gesellschaftliche Öffnung, eine Demokratisierung. Der Kalte Krieg wurde in den Köpfen aber auch durch ein feindseliges internationales Klima gefördert.

STANDARD: Kann das Ausland beim Reformprozess jetzt mithelfen?

Lessmann: Ja. Die USA haben seinerzeit auf die Reformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mit einer verschärften Blockadepolitik reagiert, das war natürlich nicht förderlich. Wandel durch Annäherung und Kooperation wäre viel mehr gefragt, im Sinne von Brandt und Kreisky.

STANDARD: Welche Bedeutung hatten die Papstbesuche in den Jahren 1998 und 2012 für Kuba?

Lessmann: Die Brüder Castro stammen aus einem christlichen Elternhaus. Doch dann kam es im Kalten Krieg zur Entfremdung. Die Kirche war praktisch in den privaten Raum verdrängt. Das hat sich geändert mit der Wirtschaftskrise. Heute ist die Kirche Vermittler bei gesellschaftlich konfliktreichen Themen. Die Papstbesuche waren Meilensteine, und nicht Ausgangspunkte, dieser Annäherung. (DER STANDARD, 13.8.2012)