Soziolinguist Dieter Halwachs hat jahrzehntelange Erfahrung mit Sprachenvielfalt und der Erforschung von Minderheitensprachen wie Romanes.

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STANDARD: In Graz werden 150 Sprachen gesprochen. Ist das besonders viel für eine Stadt dieser Größe?

Halwachs: Es gibt zwar keine Vergleichszahlen, aber um die 150 Sprachen bei ca. 270.000 Einwohner ist relativ viel.

STANDARD: Warum hat gerade Graz diese große Sprachenvielfalt?

Halwachs: Graz liegt im Einflussbereich mehrerer Kulturen und hat ein großes Einzugsgebiet, Südosteuropa und den östlichen Mittelmeerraum. Unis garantieren ebenso Vielfalt wie innovative Industrie. Der Zuzug von Arbeitskräften ist mittlerweile global. Eine liberale Stadtpolitik war zumindest in der Vergangenheit kultureller und sprachlicher Vielfalt förderlich.

STANDARD: Was sind die Vorteile und Probleme einer mehrsprachigen Gesellschaft?

Halwachs: Gesellschaftliche Vielfalt ist Normalität, Mehrsprachigkeit ein Aspekt dieser Normalität. Vielfalt im Sprachgebrauch fördert sozialen Zusammenhalt und Chancengleichheit im Bildungsbereich. Es ist erwiesen, dass muttersprachliche Alphabetisierung den Schulerfolg steigert. Die Nachteile eines monolingualen Bildungsbetriebs sind ebenso offensichtlich wie der volkswirtschaftliche Schaden durch arbeitslose, weil schlecht ausgebildete Arbeitskräfte. Dass Mehrsprachigkeit kommunikativ von Vorteil ist, braucht wohl nicht betont zu werden. Pluralität schafft keine Probleme, sondern immer nur realitätsferne Forderungen nach Uniformität. Wohin die naiv-aggressive Ideologie "ein Volk, ein Staat, eine Kultur, eine Sprache" führt, hat das 20. Jahrhundert gezeigt.

STANDARD: Was geschieht im Forschungsbereich Plurlingualimus an der Uni Graz?

Halwachs: Die Bandbreite an Aktivitäten reicht von der Dokumentation von Minderheitensprachen über die Beschäftigung mit Aspekten der Mehrsprachigkeit einzelner Personen, also Plurilingualismus, bis zur Auseinandersetzung mit lokalem Multilingualismus, also gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit. Das Multilingual-Graz-Projekt dokumentiert die sprachliche Vielfalt der Stadt, um diese für nachhaltige Entwicklung produktiv zu machen. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 4./5.8.2012)