Situationen und Charaktere in präziser Knappheit: Jürg Amann.

Foto: Haymon Verlag / Fleitmann

"Wir bringen aber die Zeiten / untereinander", dieses Wort von Hölderlin stellt der Schweizer Jürg Amann seinem Roman Wohin denn wir voran, dessen Titel auf eine Suche und eine Gemeinschaft hinweist. Die Suche ist der Idealismus, die Gemeinschaft sind drei junge Männer, und der Roman ist eine Parallelgeschichte der täuschenden, getäuschten blauen Blume in zwei, vielleicht auch drei Epochen.

1793 versprechen sich drei Fried riche, die im Tübinger Stift in derselben Stube gewohnt haben, beim Abschied, das "Reich Gottes" auf die Welt zu bringen - "was immer das sein mochte, jeder hatte seine Vorstellung davon". Diesen dreien, vor allem den Lebenswegen des Dichters unter ihnen, folgt der eine Teil der Erzählung bis zum Erfolg für zwei und zur Zerrüttung des einen: Hegel, Schelling, Hölderlin. Dass Amann sie nie anders als mit den Vornamen Georg Wilhelm Friedrich, Friedrich Wilhelm Joseph und Johann Christian Friedrich nennt, verlangt konzentrierte Lektüre. Nur mit ihren Rufnamen nach den schwäbischen Größen treten im Berlin des Jahres 1969 drei Studenten auf, die als Hegel, Schelling, Hölderlin eine bessere Welt suchen. Die Figuren, die Zeiten, die Orte setzt Jürg Amann in kurzen, pointierten Handlungs- und Denkepisoden parallel, Kapitel für Kapitel abwechselnd, den Duktus (auch mit Zitaten der historischen Tübinger drei) zeitgemäß wechselnd.

Derart Bezüge zwischen Epochen herzustellen ist sowohl eine oft geübte Hilfe für Einordnung und Übersicht, um von einem anderen Standpunkt die eigenen Umstände zu beleuchten, als auch eine gängige literarische Methode, auf die implizit der historische Roman baut. Und literarisch ist Jürg Amann mit allen Wassern der Sprachkunst gewaschen. Er hat beeindruckende Werke vorgelegt, darunter 2011 die teilweise leicht ins Traumhafte tendierenden Erzählungen Letzte Lieben und 2010 die meisterhafte Novelle Die Reise zum Horizont über Absturz und Überleben.

Immer gelingt es ihm, den Kern von Situationen sowie Charakteren in präziser Knappheit zu erfassen. Dies schafft Amann neuerlich in Wohin denn wir. Anschaulich schildert er intellektuelle und soziale Bewegungen, jene vor zwei Jahrhunderten wie jene vor über vierzig Jahren - und lässt bei der Lektüre auch das Heute mit denken. Es ist ein interessantes, vergnüglich espritvolles Versetzspiel mit Versatzstücken von Kultur und Ideologie; nur in wenigen Passagen wirkt es zu sehr ideengeschichtlich referierend.

Die Tübinger drei sind in der Folge der Französischen Revolution "vom Freiheitsschwindel angesteckt"; ein Symbol ihres Idealismus sehen die Studenten in Berlin, wo "Paradise now!" gefordert ist, umgefärbt: "Schlagt die Germanisten tot, macht die Blaue Blume rot!" - was ein historisches Scheitern der frühen Idealisten ausruft. Es geht allerdings für die sechs Protagonisten, vor allem für Hölderlin und die Berliner, nicht nur um Politik und Weltanschauung, sondern intensiv um die Suche nach Liebe.

Hölderlin, der Dichter als Hauslehrer, verzweifelt, wir wissen es, an der Unmöglichkeit, eine Liebe leben zu können; die Figur seines Namens findet viel prosaischer in seiner "Frauenlosigkeit der Großstadt" keine, die ihn "zum Mann machen würde", wie er es ausdrückt. Das "Ewigweibliche" basteln sich die Studenten, die mit ihren Müttern telefonieren und mit ihrer Sehnsucht nach einer Geliebten zu tun haben, als Ersatz. Sie kleben sich die Wunschfrau aus Ausschnitten von Nacktpostern zusammen.

Mit dem Ich trete gleichzeitig eine ganze Welt aus dem Nichts hervor, meinen die Tübinger, die nach der absoluten Freiheit aller Geister streben und nach einer von Grund auf neuen Welt. Johann Christian Friedrich begeistert sich für "das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte"; "unsere Enkel werden besser sein als wir", glaubt er. Welch ein Irrtum! Zwischen Theorie und Praxis klemmt es, vom Eigenen kommen die Tübinger "lieber ins Allgemeine, da war man leichter zu Hause".

Der, den sie in Berlin Hölderlin nennen, hatte auf den Tübinger Turm dialektal gesprayt, der Dichter sei nicht verrückt gewesen. Den Weltgeist meinen die Vertreter des "Geschlechts der kommenden Jahrhunderte" 1969 eher in leichten Drogen und in der Musik zu finden, Pink Floyd geht ihnen in Blut und Hirn. Und auch in dieser Zeit scheitern die Gegenentwürfe. Waren für die Tübinger in ihrem Freiheitsdrang Frankreich, wo die Revolution ihre Kinder fraß, und Napoleon eine Enttäuschung und ihre Vorstellungen vom künftigen guten, weil gebildeten Deutschland eine gewaltige Täuschung - so gehen, wie Pink Floyd, bald nach 1968 auch die Konter gegen die etablierte bürgerliche Gesellschaft in ihr auf. "Wohin soll es denn, mein armes Herz?", fragt Hölderlin. "Wozu alles", fragen sich schließlich die Studenten in Berlin.

Jürg Amann hat aber kein pessimistisches Buch geschrieben. Er hat vielmehr einen faszinierenden Roman komponiert, der zwar von der Blauäugigkeit des Idealismus erzählt, jedoch zu verstehen gibt, warum wir diese Kultur des Idealismus heute brauchen. (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 4./5.8.2012)