Schon als Kind interessieren mich Sterne, Meere und Grabesgeheimnisse. Unter unserer Pinie in Sutivan fantasiere ich oft von fliegenden Untertassen, deren Piloten uns endlich den Weltfrieden und die Lösung aller kosmischen Rätsel bringen.
Sternstunden im dritten Stock
Mein erster Schritt den Sternen entgegen ist nur logisch. Weil ich nicht zu irgendwelchen Däniken'schen Fundstätten reisen kann und weil ja die Aliens da schon längst wieder abgereist sind, muss ich meinen Blick nach oben, zu den Sternen, richten. Ich wünsche mir zu Weihnachten ein Teleskop, das mir mein Vater auch prompt kauft. Es ist ein einfaches Modell, nicht viel mehr als ein besseres Fernrohr mit immerhin bis zu 180-facher Vergrößerung. Hier sehe ich zum ersten Mal mit eigenen Augen das Mare Tranquillitatis und den Kopernikus-Krater auf dem Mond, die Ringe des Saturn und die Sichel der jungen Venus.
Im winterlichen Wien wird es aber in meinem privaten Dachluken-Observatorium auf dem Dachboden der Zinskaserne in Fünfhaus zu kalt. Dann verlege ich die Astronomie in mein Zimmer im dritten Stock. Genau gegenüber, nur 40 Meter entfernt, ist eine Wohnung ohne Vorhänge, in der eine freischaffende Schwalbe der Nacht ihrem Beruf nachgeht. Man kann sich vorstellen, wie blass und unbedeutend für einen 13-Jährigen plötzlich der große rote Fleck des Jupiter im Vergleich zur 30-fach vergrößerten Action in diesem Zimmer ist.
Mein Vater ist derselben Meinung. So stoßen wir einander leise fluchend, damit Mama nichts merkt, die Köpfe ums Okular des Weltraumteleskops. Dabei entdecken wir uns beiden Unbekanntes. Die Dame hat nicht nur eine minimalistische Wohnausstattung, die lediglich aus einem Bett und einer Kommode besteht. Offenbar spart sie auch am vielgerühmten Tschurifetzen. Es ist immer derselbe, den sie nach jedem Kunden einfach unter das Bett wirft und nach entgeltlicher Entladung dem nächsten Kunden zur - hm - Säuberung anbietet. Diese Entdeckung ist nicht geeignet, die Welt zu erschüttern, aber sie reicht, um mich davon zu überzeugen, niemals für Sex bezahlen zu wollen. Meinen privaten Tschurifetzen schmuggle ich seither immer mit Socken und Unterhosen in die Waschmaschine. Bis heute.
Message out of a bottle
Es sind die traurigsten Stunden, wenn ich die Insel Brač verlassen muss, weil die Ferien zu Ende sind. Erst kommt der letzte Morgen, an dem mich mein Großvater um 5 Uhr weckt, weil das Schiff nach Split um 7 Uhr ablegt. Der letzte Sonnenaufgang, der letzte Blick auf die große Pinie, unter der ich so viele fantastische Kopfreisen erlebe, der letzte Gruß der dableibenden Freunde fürs Leben. Was dann folgt, ist pure Qual der Endsommerhitze auf der Fahrt zum Flughafen bei Trogir, missmutige Volksmilizionäre, die meinen österreichischen Reisepass beäugen, und der ereignislose Flug in einer Caravelle der Austrian Airlines oder der JAT.
Diesmal aber soll alles anders sein. Wenige Tage vor meiner Abreise finde ich beim Tauchen eine alte Weinflasche am Meeresgrund. Sie hat diesen nach innen ausgebeulten Boden, der auf guten Wein schließen lässt. Ich schreibe eine Botschaft in den drei Sprachen, die ich damals beherrsche, und formuliere die Bitte an den Finder, mich an meiner Adresse in Wien zu verständigen, wo die Flasche angelandet ist. Um die Flasche wasserdicht zu machen, verschwende ich das Wachs zweier Kerzen, die meine Oma für den bei Bora oft vorkommenden Stromausfall lagert. Als die "Vladimir Nazor" in der Mitte des Bračer Kanals ist, werfe ich meine Flaschenpost weit hinter das Heck, damit die Schrauben sie nicht zermalmen können.
Zwei Monate später erreicht mich ein Brief aus Čiovo, einer kleinen Insel, die gleich bei Split liegt. Die Reise meiner Botschaft währt nur wenige Seemeilen. Die Finderin ist eine junge Frau, doppelt so alt wie ich, die meint, einen Heiratskandidaten aus dem Westen ergattern zu können, und in ihrem Brief ganz konkrete Angaben zu ihren Maßen und ihrer Willigkeit macht. Ich bin bis heute nicht sicher, ob ich möglicherweis das Glück meines Lebens verpasse, als ich beschließe, den Brief aus Čiovo unbeantwortet zu lassen.
Phantom mit Zahnschmerzen
Als Kind zieht mich der von Zypressen bewachte Friedhof von Sutivan bei der Kirche des hl. Rochus, dessen älteste tote Stivanjani seit dem 17. Jahrhundert hier schlafen, magisch an. Hier sind nur Grüfte, sogenannte Kassettengräber, die wie kleine Zimmer in den Fels gehauen sind und mit einem Deckel aus Stein verschlossen gehalten werden. Auf zweien davon sieht man Totenschädel mit gekreuzten Knochen. Für uns sind das eindeutig "Piratengräber". In Wahrheit ist das nur eine eingemeißelte Metapher für das "memento mori" zweier Bruderschaften, die ihre Toten zwecks Einsparung gemeinsam hier bestatten. Doch wir Kinder wollen unbedingt tote Piraten schauen und heben eines Tages mit gemeinsamer Kraft einen der Deckel. Ich springe in die Gruft.
Ich stehe auf einem veritablen Knochenhaufen und sehe in einer Ecke noch etwas, das wie ein kleiner Hügel aus Fingerknochen aussieht. Doch es ist Munition, die höchstwahrscheinlich die Partisanen von Sutivan hier im Zweiten Weltkrieg einlagern und nach der Siegesfeier vergessen. Jeder von uns nimmt eine Handvoll Patronen, die wir später öffnen und aus den Projektilen Halsketten machen. Ich aber nehme heimlich aus einem der Schädel auch einen Backenzahn, um als Einziger auch Halsschmuck aus einem echten Piraten zu haben.
Es dauert nicht lange, bis ich diese Grabschändung zutiefst bereue. Noch in derselben Nacht zieht ein Wärmegewitter über Brač. Ich liege zusammen mit meinem Großvater im stickigen Zimmer. Der übliche Stromausfall bei Gewitter folgt auf dem Fuß, und ich wälze mich schwitzend zwischen den Laken. Fahles Licht, das aus der Zimmertür zu strahlen scheint, weckt mich. Mein Opa schnarcht wie üblich, doch wie bei einem Audio-Dropout im ORF dringt kein Ton aus seinen vibrierenden Nasenflügeln. Aus dem Licht streckt eine knochige Gestalt den Arm aus, öffnet die Hand und hält sie mir fordernd entgegen. Großvater schnarcht plötzlich wieder, Licht und Phantom sind weg, die Botschaft ist glasklar. Am nächsten Tag bekommt der "Pirat" seinen Zahn zurück.
Heute weiß ich, dass dies nur die Regung schlechten Gewissens über die Pietätlosigkeit dieser postmortalen Zahnextraktion ist, die sich im dämmernden Hitzeschlaf eines halbwüchsigen Vollidioten manifestiert. An Gespenster, den Weihnachtsmann und Gott glaube ich damals wie heute nicht. An Außerirdische, und dass sie netter sind als wir, hingegen schon. (Bogumil Balkansky, daStandard.at, 3.8.2012)