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Innsbrucker Botaniker gehen den Schutzmechanismen der alpinen Flora nach.

Foto: APA/EPA/ARNO BALZARINI

Als Gebirgspflanze hat man es nicht leicht: Die Winter sind hart und die Sommer kurz. Zusätzlich kann es auch in der warmen Jahreszeit immer wieder einmal schneien und bald darauf glühend heiß werden. Mit all diesen Bedingungen kommen die meisten Pflanzen, die sich so weit hinauf wagen, jedoch erstaunlich gut zurecht: So sind sie gewöhnlich kleinwüchsig, um Wind und Schnee wenig Angriffsfläche zu bieten, haben oft eine haarige Schutzschicht gegen Kälte und Strahlung und bilden Polster, in deren Innerem das Klima moderater ist als an der Oberfläche.

Erwachsene Exemplare sind also in der Regel gut an das Leben im Hochgebirge angepasst. Was ist jedoch mit dem Nachwuchs? Auch bei Pflanzen ist Gewebe, das noch in Entwicklung begriffen ist, deutlich empfindlicher als ausdifferenziertes. Wie schützt die Hochgebirgsflora ihre Knospen und Blüten gegen die sommerlichen Temperaturschwankungen, vor allem gegen Fröste? Dieser Frage gehen Johanna Wagner und Gilbert Neuner vom Institut für Botanik der Universität Innsbruck und ihre Mitarbeiter Jürgen Hacker und Ursula Ladinig in einem vom Wissenschaftsfond FWF unterstützten Projekt nach.

Eis zwischen den Zellen

Langjährigen Messungen zufolge ist in alpinen Lebensräumen in 20 bis 35 Prozent aller Sommernächte mit Temperaturen unter null Grad zu rechnen, in der Gletscherzone sind es gar 68 Prozent. Wie die Innsbrucker schon in früheren Untersuchungen zeigen konnten, halten die dort vorkommenden Pflanzen das bis zu einem gewissen Maß ganz gut aus: Sie sind imstande, in ihren Blättern Eisbildung in den Räumen zwischen den Zellen zu ertragen, und können auf diese Weise je nach Pflanzenart Temperaturen zwischen minus vier und minus zehn Grad ohne Schäden überstehen. Nur wenn der Frost zu lange dauert, beginnt das extrazelluläre Eis, den Zellen Wasser zu entziehen - mit fatalen Folgen für das betroffene Gewebe.

Weitgehend unbekannt war bisher, wie gut Blütenknospen, Blüten und Früchte sowie wachsende Samen mit Frost zurechtkommen. Die Innsbrucker Forschergruppen setzten daher Gebirgsarten mit unterschiedlicher Höhenverbreitung in verschiedenen Phasen der Reproduktion (Knospen-, Blüh- und Fruchtstadium) in Klimaschränken unterschiedlich heftigen Nachtfrösten aus. Zusätzlich wurde mithilfe einer hochempfindlichen Infrarot-Kamera analysiert, bei welchen Temperaturen es in welchen Geweben zu Eisbildung kommt und wie sich das Eis in den Trieben ausbreitet.

Irreversible Schäden

Wie sich herausstellte, sind die reproduktiven Triebe der meisten Arten bei weitem nicht so gefriertolerant wie Blätter und andere vegetative Teile: Schon recht milde Fröste um minus zwei, drei Grad führen zu irreversiblen Schäden, wobei die Triebe von Blüten während des Streckungswachstums besonders empfindlich sind. Diese Anfälligkeit für Frost stellt eine ernsthafte Beschränkung für die jeweilige Pflanzenart dar: Unter Umständen kommt sie im ohnedies kurzen Bergsommer gar nicht zur Fortpflanzung.

So weiß man etwa von der Alpenrose, dass sie in manchen Sommern in bestimmten Gebieten so gut wie keine Samen hervorbringt, weil Spätfröste die Blütentriebe vernichten. Tatsächlich stellte sich die Alpenrose auch in den Gefrierversuchen als besonders frostempfindlich heraus. Als am härtesten im Nehmen zeigte sich der Gletscher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis): Alle seine Teile halten in allen Entwicklungsphasen mindestens minus fünf bis sechs Grad aus. Nicht umsonst gehört er zu den extremen Gipfelstürmern: In den Schweizer Alpen findet man ihn noch in Höhen über 4200 Meter.

Die meisten anderen untersuchten Arten erwiesen sich jedoch nicht als so rundum widerstandsfähig. Ist also die Bildung reifer Samen im Gebirge eher die Ausnahme als die Regel? "Es ist nicht so dramatisch", winkt Wagner ab. "Erstens sind extreme Fröste dann doch seltener als milde, und zweitens müssen sie ja nicht mit den empfindlichsten Entwicklungsstadien zusammenfallen." Außerdem frieren nicht alle Triebe einer Pflanze gleichzeitig aus, wie die Forscher zeigen konnten. Besonders bei Polsterpflanzen beschränkt sich die Eisausbreitung auf einzelne Triebe. Allem Anschein nach bilden die dicht aneinander gedrängten Rosetten eine Art Isolierschicht. "Das Risiko, einen Vollschaden zu erleiden, ist also nicht so groß", sagt die Pflanzenphysiologin.

Warum unternehmen die Pflanzen überhaupt solche Anstrengungen, sich unter diesen unwirtlichen Bedingungen sexuell fortzupflanzen, wenn sie es eigentlich auch bei vegetativer Vermehrung belassen könnten? "Die Lebensräume im Gebirge wandeln sich ständig - etwa durch Muren, Lawinen, Gletscherrückzug und dergleichen", führt Wagner aus. "Nur durch die Produktion von Samen entsteht eine genetische Vielfalt, die sich rasch an die neuen Möglichkeiten anpassen kann. Abgesehen davon würde sonst die ursprüngliche Population einmal so alt werden, dass sie abstirbt und schließlich verschwindet." Offenbar kommen auch Pflanzen auf die Dauer nicht ohne Sex aus. (Susanne Strnadl, DER STANDARD, 1.8.2012)