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Einzelhändler prägen Indiens Wirtschaft. Der Plan von Premier Singh, das Land für ausländische Supermarktketten wie Wal-Mart zu öffnen, scheiterte an der Opposition.

Foto: AP/Rafiq Maqbool

Neu-Dehli - Es war eine böse Ohrfeige. Und das vom mächtigsten Mann der Welt. In einem Interview mahnte US-Präsident Barack Obama Indien jüngst, endlich weitere Reformen anzugehen. Das Klima für Investitionen verschlechtere sich, rügte er das zweitbevölkerungsreichste Land, das er 2010 noch als Supermacht umschmeichelt hatte. Zuvor hatte schon das US-Magazin "Time" auf dem Titelblatt Premierminister Manmohan Singh als "Underachiever" abgewatscht - frei übersetzt etwa: Minderleister.

Erst hochgejubelt, nun niedergemacht: Für Indiens Regierung kommt es knüppeldick. Es ist nur wenige Jahre her, da glänzte Indien mit Zuwachsraten von mehr als neun Prozent und wurde vom Westen als Gegenmodell zum autoritären China gefeiert. Nun brennt es an allen Ecken und Enden. Doch die von der Kongresspartei geführte Regierungskoaliton wirkt wie gelähmt.

Das Wachstum fiel heuer im ersten Quartal mit 5,3 Prozent auf ein Neun-Jahres-Tief. Das ist viel zu wenig, um das Riesenland aus der enormen Armut zu hieven. Die Rupie schwächelt, und die ausländischen Investitionen brachen um ein Drittel ein. Die rasante Inflation frisst zudem die Wohlstandsgewinne der Boomjahre wieder auf. Die Ratingagentur Standard & Poor's drohte sogar, Indien auf Ramschniveau herunterzustufen.

Regionaler Parteienwildwuchs

Der Reformdruck wächst. Immer lauter rufen Indiens Medien, Geschäftswelt und Experten nach dem Befreiungsschlag. Auch der kriselnde Westen hofft auf einen neuen Reformschub. Vor allem die USA bedrängen Indien, seine Märkte stärker zu öffnen. Der politische Wille scheint da zu sein. "Die Kongresspartei hat bis in ihre Führung erkannt, dass sie sich nicht bis 2014 durchwursteln kann", meint ein Insider.

Doch die Kernfrage ist, ob sie auch die Kraft besitzt, Reformen durchzuboxen. Die "größte Demokratie der Welt" blockiert sich zusehends selbst. Die Ursache für die politische Paralyse liege "in der wachsenden Dysfunktionalität von Indiens Demokratie", meint der bekannte Kolumnist Prem Shankar Jha. Lange regierte die Kongresspartei beinahe unangefochten das Land, dann schossen immer mehr Regional- und Kastenparteien aus dem Boden.

Wal-Mart-Schlappe für Singh

Heute ist die Parteienlandschaft heillos zersplittert, abenteuerlich zusammengeschusterte Koalitionsregierungen sind die Regel. Schon Kanzlerin Angela Merkel fällt es schwer genug, sich mit der FDP zu einigen. Dabei sind das paradiesische Zustände: Sonia Gandhi, Chefin der Kongresspartei, schlägt sich mit fast zehn Koalitionspartnern herum, die meist nur auf ihre Bundesstaaten blicken, nicht aber auf das gesamte Land. Und so fielen Reformen dem Machterhalt zum Opfer.

Wie klein der Spielraum von Premier Singh ist, zeigt das seit Jahren dauernde Gezerre um die Einzelhandelsreform. Im Dezember hatte das Kabinett endlich beschlossen, Indien stärker für Supermarktriesen wie Wal-Mart zu öffnen. Nur wenig später musste die Regierung kleinlaut zurückrudern, nachdem sich nicht nur die alte Garde in der Kongresspartei, sondern auch die Partei Trinamool Congress, ein wichtiger Verbündeter, quergestellt hatten.

Das hat auch mit alten Ängsten zu tun. Die Kolonialherrschaft hat sich als Trauma tief in die kollektive Seele gebrannt. Noch immer beäugen viele Politiker ausländische Investoren mit Misstrauen. Obamas nassforsches Drängen kam daher nicht gut an - und wurde von vielen als imperialistisches Gehabe empfunden. Der US-Präsident habe den Reformern in der Regierung keinen Gefallen getan, ärgerte sich das Magazin "Tehelka".

Reförmchen statt Reformen

Dennoch hoffen viele, dass die Regierung doch noch durchstartet und sich, wenn nicht zu Reformen, dann doch zu Reförmchen aufrafft. Viel Zeit bleibt Singh nicht mehr. Die nächsten drei Monate gelten als letzte Chance, noch Reformen durchzupeitschen. Ab November beginnt ein langer Wahlreigen in den Bundesländern. Dann, meint der Anlageberater Sanjeev Prasad, sei der Reformzug bis zu den Bundeswahlen 2014 abgefahren. (Christine Möllhoff, DER STANDARD, 30.7.2012)