Anne Pisker in ihrem Wohnzimmer. Auf dem Tisch liegt ein Album mit Schwimmfotos aus den 30ern, an der Wand hängt das eine Bild ihrer Mutter, das sie einem großen Zufall verdankt.

Foto: STANDARD/Neumann

Einige Medaillen hob sie auf, einige schenkte sie einem Museum.

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Teilnahmebestätigung von der zweiten Maccabiade, die 1935 in Israel stattfand. Das Team war per Schiff von Triest nach Haifa gereist.

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Standard: Wie erinnern Sie sich an das Wien, in dem Sie aufgewachsen sind?

Pisker: Es war wunderschön in Wien. Ich hatte eine weitgehend glückliche Kindheit. Die Familie hat in der Frankenberggasse im vierten Bezirk gewohnt, zur Schule gegangen bin ich in der Hegelgasse. Vier Jahre Volks-, vier Jahre Hauptschule. Leider ist meine Mutter, als ich dreizehn war, an Krebs gestorben, das war 1933, ihr ist viel erspart geblieben.

Standard: Das Bild hinter Ihnen an der Wand, ist das Ihre Mutter?

Pisker: Ja, es wurde 1928 gemalt, und es ist ein großer Zufall, dass ich es habe. Eine Bekannte der Familie ist nach dem Krieg ins Dorotheum gegangen, hat es dort entdeckt und sofort gekauft.

Standard: Welche Bedeutung hatte das Schwimmen für Sie?

Pisker: Für mich war es wichtig, mir hat es geholfen, ich hatte viele Freunde dort. Österreich war eine Schwimmnation, die Hakoah hatte viele Meisterschwimmer und -schwimmerinnen, dazu die Wasserballer. Einmal, ich war noch sehr jung, ist der Johnny Weissmüller in Wien geschwommen. Da war die Aufregung natürlich groß.

Standard: Ihr Trainer war der berühmte Zsigo Wertheimer?

Pisker: Ja, ich war in seiner Gruppe, bin mit Judith Deutsch, Ruth Langer, Elli Schmidt und Lucie Goldner geschwommen, auch Hedy Bienenfeld und Fritzi Löwy, die einige Jahre älter waren, waren noch dabei. Die Hedy hat den Wertheimer geheiratet. Als Trainer war er streng, fast cholerisch. Wenn er nicht zufrieden war, hat er unsere Schlapfen ins Wasser geschmissen. Aber es war eine tolle Zeit, es gab Trainingslager am Wörthersee, in Pörtschach. Damals hieß ich Pick, Annemarie Pick.

Standard: Es heißt, Sie wären für die Olympischen Spiele 1936 nominiert gewesen, hätten sich aber geweigert, nach Berlin zu fahren.

Pisker: Ich wäre vielleicht Ersatz gewesen. Aber nominiert war Deutsch, sie und einige andere haben sich offiziell geweigert teilzunehmen. Dafür wurde Judith vom Schwimmverband gesperrt. Der war lang vor dem Krieg durch und durch antisemitisch. Erst Mitte der 90er hat der Schwimmverband sich bei Judith entschuldigt und ihre Rekorde wieder anerkannt. In den 30ern ging es oft gegen die Hakoah, wurde versucht, uns aus fadenscheinigen Gründen zu disqualifizieren. Karl Schäfer, der Eiskunstläufer, der auch ein glänzender Brustschwimmer war, hat sich mehrmals für uns eingesetzt.

Standard: Was waren Ihre Erfolge?

Pisker: Ich war eine starke Kraulerin, Junioren-Meisterin, habe einige Staffel-Titel geholt. Damals wurden in den Staffeln nur dreimal hundert Meter geschwommen. Der Butterfly-Stil kam erst dazu, knapp bevor ich emigriert bin. Ich hab 1935 an der zweiten Maccabiade in Israel teilgenommen, wir sind mit dem Schiff von Triest nach Haifa gefahren. Und ich war 1937 offizielle Polizei-Meisterin, weil ich in der Donau den Bewerb "Quer durch Wien" gewonnen habe. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Strecke war, natürlich lange. Aber ich weiß noch, wie schmutzig die Donau war.

Standard: Wie haben Sie den Einmarsch 1938 erlebt?

Pisker: Ich war auf dem Heldenplatz. Ich wollte unbedingt hören, was Hitler sagt. Mein Vater hatte keine Ahnung davon, es war eine Riesendummheit. Ich hab mein Leben riskiert. Wir hatten x-mal die Gestapo in der Frankenberggasse, sie haben Geld verlangt, wir hatten keines, einmal haben sie einen Perserteppich zusammengerollt und mitgenommen.

Standard: Wurden Sie jüdisch erzogen?

Pisker: Gar nicht, die Familie war völlig unreligiös. Mein Vater, 1888 geboren, war Rittmeister in der k. u. k. Armee, ein ungewöhnlicher Posten für einen Juden. Er war vier Jahre lang im Ersten Weltkrieg. Als ich mit der Schule fertig war, hat mich mein Vater für einige Monate nach England geschickt, ich sollte die Sprache lernen. Drei Jahre später schickte mir die Headmistress einen Letter of Invitation nach Wien. Das hat mir vielleicht das Leben gerettet, so kam ich 1938 wieder nach England.

Standard: Nach London?

Pisker: Zuerst nach St. Leonards-on-sea bei Hastings, dann nach Bath. Ich habe Deutsch unterrichtet. Als die Navy nach Bath kam, mussten die Ausländer weg, dann war ich wieder in London. Ich hab mir mit meiner Schwimmkollegin Ruth Langer bei der Paddington Station ein Zimmer geteilt.

Standard: Ist auch Ihrem Vater die Flucht gelungen?

Pisker: Ja, weil er großes Glück hatte. Es gab in der Zwischenkriegszeit einen berühmten Tenor in Wien, Alfred Piccaver. Seine Schwiegereltern waren gute Bekannte von uns. Als der Mann starb, gab seine Frau seinen Reisepass meinem Vater. Der hat das Foto ausgetauscht, ist damit über die Grenze gekommen. Mein Vater war auf der Isle of Man, das verzeih ich den Briten nicht, dass sie dort jüdische Flüchtlinge gemeinsam mit gefangenen Nazis internierten. Mein Vater führte auf der Insel ein kleines Kaffeehaus, er hat gesagt: Damit kenn ich mich aus, ich bin in Wien oft genug im Kaffeehaus gesessen.

Standard: Ist er nach dem Krieg nach Wien zurückgekehrt?

Pisker: Ja, mein Vater war ein Wiener durch und durch, es hat ihn 1947 zurückgezogen. Er hat gesagt, sein Leben ist nichts wert, wenn er nicht durch die Kärntner Straße gehen kann. Ich hab meinen Vater bis zu seinem Tod 1964 jedes Jahr besucht.

Standard: Sie selbst wollten nicht zurück?

Pisker: Das war kein Thema. Ich hatte noch während des Kriegs meinen Jugendfreund geheiratet, Hans Pisker, auch er war bei der Hakoah, Wasserballer und Brustschwimmer. Eigentlich war die Heirat ein Fehler, mein Mann hat mich später verlassen, wegen einer Jüngeren. Aber ich habe einen tollen Sohn, Andrew, ein ausgezeichneter Tennisspieler übrigens, und zwei wunderbare Enkelsöhne, Charly und Teddy.

Standard: Welche Einstellung hat Ihr Sohn zu Österreich?

Pisker: Andrew war immer wütend auf mich, wenn ich nach Wien gereist bin. Er sieht nur, was mir dieses Land angetan hat, und im Gegensatz zu mir hat er keine positiven Erinnerungen. Ich wollte Andrew zweisprachig erziehen, aber wenn ich ihn auf Deutsch angeredet habe, hat er auf Englisch geantwortet.

Standard: Bei den Dreharbeiten zum 2004 bei der Viennale gezeigten Film " Watermarks" trafen Sie sich in Wien mit anderen ehemaligen Hakoah-Schwimmerinnen. Ein besonderes Erlebnis?

Pisker: Ein ganz besonderes. Am Ende sind wir gemeinsam im Amalienbad geschwommen - so ein schönes Bad. Wobei, trainiert haben wir seinerzeit immer im Stadionbad und im Dianabad.

Standard: Wie werden Sie die Olympischen Spiele verfolgen? Hätten Sie sich Karten für die Schwimmbewerbe gewünscht?

Pisker: Nein, nein, ich bin ja gar nicht mehr gut zu Fuß, und an manchen Tagen hör ich nicht gut. Ich gehe auch am Abend nicht mehr aus. Ich werde viel fernsehen. Bis vor einigen Jahren war ich öfters in Wimbledon. Für Tennis interessiere ich mich, ich hoffe, dass dem Melzer und der Paszek etwas gelingt. Und das Radfahren seh ich mir an, die Franzosen sind ja entsetzt, dass ein Brite die Tour de France gewonnen hat.

Standard: Wie halten Sie sich auf dem Laufenden?

Pisker: Wissen Sie, ich lese seit Jahren den Guardian. Zuerst die Titelseite, dann den Sport, dann den Rest. Darf ich Ihnen noch einen Kaffee anbieten - oder noch eine Mannerschnitte? Gott sei Dank weiß ich, wo man hier Mannerschnitten bekommt, da gibt es ein Geschäft in St. Johnswood. (Fritz Neumann, DER STANDARD, 28./29. Juli 2012)