Imam Fatih Toygun wird in Wien nicht öffentlich zum Gebet aufrufen.

Foto: Markus Bernath

Westnordwest geht die Fahrt, eineinhalb Stunden mit dem Bus bis ans Ende von Istanbul. Dort ist Başakşehir-4, die "Kornähren-Stadt", der jüngste Ausläufer der türkischen Metropole, die unaufhörlich wächst. Fatih Toygun hat tatsächlich noch ein leeres Feld vor dem Haus. Es gehört dem türkischen Militär, und seine Moschee kann er vom Balkon aus sehen. Ein kleines erdfarbenes Gebetshaus mit moderner Glasfront und dem Minaretttürmchen der alten anatolischen Moscheen, nicht der übliche Betonkuppel-Einheitsbau von Toki, des staatlichen Baukonzerns, der die Türkei landauf landab zupflastert.

"Es gibt keinen Unterschied zwischen der Arbeit hier und dort", überlegt Toygun, der junge Imam, an einem Abend auf seinem Balkon, links das Feld, geradeaus die Moschee. "Hier ist nur mein Land und dort sind wir eine Minderheit." Aber das ist schon das ganze Problem.

Die kleine Idylle am Stadtrand tauscht er bald gegen den 16. Bezirk in Wien ein. Dann muss der Imam von Başakşehir in den Keller, wo die Moscheen in Österreich gewöhnlich verräumt werden. Und zum Gebet kann der 33-Jährige natürlich nicht mehr aufrufen, nicht wie hier, jetzt im Sommer um Viertel vor sechs am Morgen zum ersten Mal, nachts nach zehn Uhr ein letztes Mal. Es ist, wie einem Priester die Kirchenglocke wegnehmen oder das Singen verbieten. Das sagt Toygun nicht, und auch nicht, dass in Istanbul die Glocken der griechisch-orthodoxen und der katholischen Kirchen läuten, je nach Stadtteil morgens wie abends und mehrmals in der Woche. Nur dass es schön wäre, wenn er in Wien wenigstens am Freitag zum Mikrofon greifen dürfte - "meine persönliche Meinung."

Brücke zwischen Ländern

Toygun ist einer von acht Imamen aus der Türkei, die in diesem September ihre Arbeit in Österreich aufnehmen. Fünf Jahre bleiben sie, abgesandt und bezahlt von der türkischen Religionsbehörde Diyanet. "Als Religionsbeauftragte haben Sie eine besondere Brückenfunktion zwischen Ihren Gemeinden und der österreichischen Gesellschaft, zwischen der Türkei und Österreich", hatte Botschafter Klaus Wölfer gesagt, als er die Imame Anfang des Monats in Ankara verabschiedet hatte.

Um Vertrauen geht es, um Offenheit im gegenseitigen Umgang und auch um das Wissen über Österreich, meint Sabine Kroissenbrunner, die das Kooperationsprogramm im Außenministerium seit 2007 vorangetrieben hatte und mittlerweile ebenfalls auf Posten in Ankara ist. Zwei Tage sind die Imame in der türkischen Hauptstadt von den Österreichern auf ihren Einsatz vorbereitet worden mit Vorträgen über die Religionen in Österreich, Frauenrechte, Verwaltungsangelegenheiten. Eine weitere Woche Schulung folgt in Wien.

Die "delikanli" ins Gebet nehmen

Die Kellermoschee im 16. kennt Fatih Toygun schon. Sein Vater war dort von 2003 bis 2007 Imam. Der Sohn kam für einen Monat und half bei der Vertretung des Diyanet in Wien aus. So ordentlich und ruhig war es in Wien damals im Dezember und fürchterlich kalt, erinnert sich Toygun. Praktisch wie Başakşehir. Die jungen Österreicher-Türken kennt er auch. Sie kommen in den Sommerferien mit den Eltern in die Türkei, sind genervt, wenn sie gemaßregelt werden, und können sich oft nicht leicht verständigen, weil sie das Türkische nicht recht beherrschen.

Zu den Familien der Jugendlichen in Wien will er gehen, so hat er es sich vorgenommen und die "delikanli" ins Gebet nehmen, die "Hitzköpfe" von der Straße. "Wir werden gemeinsame Interessen finden", sagt Toygun. Fußball spielen, Basketball, die Ney-Flöte: Der junge Imam ist ein Meister des schlichten, aber ziemlich schwer zu spielenden Instruments. Das will er in Wien unterrichten. Kurze Röcke, Kopftuch oder nicht, sind ihm einerlei. "Jeder soll sich anziehen, wie er will", sagt Toygun. Nur in seiner Moschee sollen sich die Besucher an die Kleiderordnung halten. Er werfe aber niemanden hinaus, meint der Imam. Junge Leute wie ihn bräuchte die türkische Gemeinschaft dort, sagt er. "Ich habe mir Wien ausgesucht." (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 25.7.2012)