Und wieder nimmt der tote Revolutionär Marat sein Klangbad im Bodensee: das temporäre Bregenzer Wahrzeichen in Aktion.

Foto: Förster

Musikalisch ist sie in Ordnung, szenisch ein gelungener Spagat zwischen spektakulären Bildern und Denkanstößen, auf welche die  Bregenzer  Festspiele Wert legen.

Bregenz - Auf der Seebühne steht der gigantische Motor der Bregenzer Festspiele - und zwar nicht nur in Form des Maschinenwerks, das die Kulissen spektakulär in Bewegung bringt. Das "Spiel auf dem See" ist das wirtschaftliche Rückgrat des ganzen Festivals. Ein paar verregnete Abende, und die Bilanz ist angeschlagen; läuft es hingegen rund, ist die Basis für das restliche Programm gesichert.

Denn es ist ja in Bregenz die Strategie, durch den Kassenschlager im Freien genügend Spielraum für die anderen Veranstaltungen zu schaffen und hier auch ein anspruchsvolles Minderheitenprogramm zu bieten. Auch wenn sich über dessen Form streiten ließe, etwa welche Komponisten man mit den Aufträgen für die Hausoper betraut oder warum die Schiene "Kunst aus der Zeit" Kürzungen hinnehmen musste.

Andererseits wird auf der Seebühne zwar nach kaufmännischem Erfolg geschielt, aber nicht um jeden Preis. Man versucht, plakative Optik mit Denkanstößen zu kombinieren - auch mit dem dramaturgischen Drumherum. Mit Umberto Giordanos André Chénier ist es im Vorjahr mustergültig gelungen, ein Stück weit außerhalb der Top Ten unter Wahrung dieses Spagats herauszubringen.

Die Seebühne braucht immer ein starkes Symbol als Eyecatcher, das jeweils für die zwei Jahre, in denen eine Oper hier gegeben wird, zu einem temporären Wahrzeichen der Stadt mutiert. Mit dem Gemälde Der Tod des Marat von Jacques-Louis David haben Regisseur Keith Warner und sein Bühnenbildner David Fielding ein solches starkes Bild gefunden, das auch im zweiten Jahr noch für Aufmerksamkeit sorgt, auch wenn von den Vorarlbergern gerne darüber gewitzelt wird, dass der tote Revolutionär nun statt der Badewanne im Bodensee liegt.

Intendant David Pountney hat es sich nicht nehmen lassen, im Programmheft über die Französische Revolution zu schreiben; Bilder aktueller Kämpfe und Demonstrationen suchen den Bezug zur Gegenwart. Die Inszenierung forciert solche Zusammenhänge nicht, spottet aber nach wie vor vergnüglich über die gerade noch vorrevolutionären Zustände in der adeligen Gesellschaft.

Tumult und Gewimmel

Nach wie vor ist im Gewimmel auf der Bühne nicht immer auf den ersten Blick auszumachen, wer da gerade singt; nach wie vor beeindrucken die technischen Effekte, auf deren Zahlen und Daten man in Bregenz besonders stolz verweist (der Kopf misst 14 mal 16 Meter und wiegt 60 Tonnen).

Die Musik dringt zwar aus 80 Lautsprechern, ist aber naturgemäß nur eine Ebene unter mehreren. Ulf Schirmer hat am Pult der Wiener Symphoniker die Fäden fest in der Hand (auch in den Zwischenmusiken von David Blake, die den tumultuösen Kämpfen die Aura des 20. Jahrhunderts geben).

Freilich geht es hier weniger um flexibles Atmen mit den Sängern oder andere Subtilitäten als um Stufendynamik und Akzentuierung. Und für Héctor Sandoval (Chénier) heißt die Aufgabe, seine Spitzentöne weithin hörbar herauszuschmettern, für John Lundgren (Gérard), verschlagen zu grummeln, für Tatiana Serjan (Maddalena), lyrisch zu leiden.

Immerhin gelingt es am Bodensee, dass die Musik nicht gänzlich untergeht - und dass Tausende ein Werk entdecken können, dem sie wohl sonst nie begegnet wären.     (Daniel Ender, DER STANDARD, 21./22.7.2012)